Kant: AA VIII, Idee zu einer allgemeinen ... , Seite 023 |
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01 | Sechster Satz. |
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02 | Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches | ||||||
03 | von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird. Die | ||||||
04 | Schwierigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen | ||||||
05 | legt, ist diese: der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner | ||||||
06 | Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß | ||||||
07 | seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und ob er gleich als | ||||||
08 | vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken | ||||||
09 | setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige thierische Neigung, wo er | ||||||
10 | darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den | ||||||
11 | eigenen Willen breche und ihn nöthige, einem allgemeingültigen Willen, | ||||||
12 | dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn | ||||||
13 | her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. Aber dieser ist eben | ||||||
14 | so wohl ein Thier, das einen Herrn nöthig hat. Er mag es also anfangen, | ||||||
15 | wie er will; so ist nicht abzusehen, wie er sich ein Oberhaupt der öffentlichen | ||||||
16 | Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei; er mag dieses nun | ||||||
17 | in einer einzelnen Person, oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesenen | ||||||
18 | Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit | ||||||
19 | mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn | ||||||
20 | Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst | ||||||
21 | und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter | ||||||
22 | allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem | ||||||
23 | Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert | ||||||
24 | werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur | ||||||
25 | auferlegt*). Daß sie auch diejenige sei, welche am spätesten ins Werk gerichtet | ||||||
26 | wird, folgt überdem auch daraus: daß hiezu richtige Begriffe von | ||||||
27 | der Natur einer möglichen Verfassung, große durch viel Weltläufe geübte | ||||||
28 | Erfahrenheit und über das alles ein zur Annehmung derselben vorbereiteter | ||||||
29 | guter Wille erfordert wird; drei solche Stücke aber sich sehr schwer | ||||||
30 | und, wenn es geschieht, nur sehr spät, nach viel vergeblichen Versuchen, | ||||||
31 | einmal zusammen finden können. | ||||||
*) Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen sei, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln, da wir unter unseren Nachbaren im Weltgebäude einen nicht geringen Rang behaupten dürften. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen. | |||||||
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