Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 324 |
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01 | und bedürftig. Hier ist nun (mit oder gegen Rousseau) die Frage: ob der | ||||||
02 | Charakter seiner Gattung ihrer Naturanlage nach sich besser bei der | ||||||
03 | Rohigkeit seiner Natur, als bei den Künsten der Cultur, welche kein | ||||||
04 | Ende absehen lassen, befinden werde. - Zuvörderst muß man anmerken: | ||||||
05 | daß bei allen übrigen sich selbst überlassenen Thieren jedes Individuum | ||||||
06 | seine ganze Bestimmung erreicht, bei den Menschen aber allenfalls nur | ||||||
07 | die Gattung: so daß sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten | ||||||
08 | in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen zu seiner Bestimmung | ||||||
09 | empor arbeiten kann; wo das Ziel ihm doch immer noch im | ||||||
10 | Prospecte bleibt, gleichwohl aber die Tendenz zu diesem Endzwecke zwar | ||||||
11 | wohl öfters gehemmt, aber nie ganz rückläufig werden kann. | ||||||
12 | III Die moralische Anlage. Die Frage ist hier: ob der Mensch | ||||||
13 | von Natur gut, oder von Natur böse, oder von Natur gleich für eines | ||||||
14 | oder das andere empfänglich sei, nachdem er in diese oder jene ihn bildende | ||||||
15 | Hände fällt ( cereus in vitium flecti etc. ). Im letztern Falle würde die | ||||||
16 | Gattung selbst keinen Charakter haben. - Aber dieser Fall widerspricht | ||||||
17 | sich selbst; denn ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein | ||||||
18 | der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich | ||||||
19 | in diesem Bewußtsein selbst mitten in den dunkelsten Vorstellungen unter | ||||||
20 | einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), | ||||||
21 | daß ihm, oder durch ihn Anderen recht oder unrecht geschehe. Dieses ist | ||||||
22 | nun schon selbst der intelligibele Charakter der Menschheit überhaupt, | ||||||
23 | und in so fern ist der Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) | ||||||
24 | gut. Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur | ||||||
25 | thätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt | ||||||
26 | sei, d. i. zum Bösen, sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als | ||||||
27 | der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und | ||||||
28 | darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch seinem | ||||||
29 | sensibelen Charakter nach auch als (von Natur) böse zu beurtheilen, | ||||||
30 | ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung | ||||||
31 | die Rede ist; weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung | ||||||
32 | im continuirlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe. | ||||||
33 | Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung | ||||||
34 | des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist | ||||||
35 | folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft | ||||||
36 | mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften | ||||||
37 | zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch | ||||||
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