Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 293

   
         
 

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Von den Eigenschaften, die blos daraus folgen, daß der

   
  02

Mensch einen Charakter hat oder ohne Charakter ist.

   
         
  03 1) Der Nachahmer (im Sittlichen) ist ohne Charakter; denn dieser    
  04 besteht eben in der Originalität der Denkungsart. Er schöpft aus einer    
  05 von ihm selbst geöffneten Quelle seines Verhaltens. Darum aber darf der    
  06 Vernunftmensch doch auch nicht Sonderling sein; ja er wird es niemals    
  07 sein, weil er sich auf Principien fußt, die für jedermann gelten. Jener ist    
  08 der Nachäffer des Mannes, der einen Charakter hat. Die Gutartigkeit    
  09 aus Temperament ist ein Gemälde aus Wasserfarben und kein Charakterzug;    
  10 dieser aber in Caricatur gezeichnet, ist ein frevelhafter Spott über    
  11 den Mann von wahrem Charakter getrieben: weil er das Böse, was einmal    
  12 zum öffentlichen Gebrauch (zur Mode) geworden, nicht mitmacht und    
  13 so als ein Sonderling dargestellt wird.    
         
  14 2) Die Bösartigkeit als Temperamentsanlage ist doch weniger    
  15 schlimm, als die Gutartigkeit der letzteren ohne Charakter; denn durch    
  16 den letzteren kann man über die erstere die Oberhand gewinnen. - Selbst    
  17 ein Mensch von bösem Charakter (wie Sylla), wenn er gleich durch die    
  18 Gewaltthätigkeit seiner festen Maximen Abscheu erregt, ist doch zugleich    
  19 ein Gegenstand der Bewunderung: wie Seelenstärke überhaupt in Vergleichung    
  20 mit Seelengüte, welche freilich beide in dem Subject vereinigt    
  21 angetroffen werden müssen, um das herauszubringen, was mehr Ideal    
  22 als in der Wirklichkeit ist, nämlich: zum Titel der Seelengröße berechtigt    
  23 zu sein.    
         
  24 3) Der steife, unbiegsame Sinn bei einem gefaßten Vorsatz (wie etwa    
  25 an Karl XII) ist zwar eine dem Charakter sehr günstige Naturanlage,    
  26 aber noch nicht ein bestimmter Charakter überhaupt. Denn dazu werden    
  27 Maximen erfordert, die aus der Vernunft und moralisch=praktischen Principien    
  28 hervorgehen. Daher kann man nicht füglich sagen: die Bosheit    
  29 dieses Menschen ist eine Charaktereigenschaft desselben; denn alsdann wäre    
  30 sie teuflisch; der Mensch aber billigt das Böse in sich nie, und so giebt es    
         
     

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