Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 258 |
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01 | Vergleichung mit Anderen in der Achtung nichts zu vergeben, heißt Dreistigkeit; | ||||||
02 | im Gegensatz der Blödigkeit, einer Art von Schüchternheit | ||||||
03 | und Besorgniß, Anderen nicht vortheilhaft in die Augen zu fallen. | ||||||
04 | Jene kann als billiges Vertrauen zu sich selbst nicht getadelt werden. Diejenige | ||||||
05 | Dreistigkeit*) aber im Anstande, welche jemanden den Anschein | ||||||
06 | giebt, sich aus dem Urtheil Anderer über ihn nichts zu machen, ist Dummdreistigkeit, | ||||||
07 | Unverschämtheit, im gemilderten Ausdruck aber Unbescheidenheit; | ||||||
08 | diese gehört also nicht zum Muthe in der sittlichen Bedeutung | ||||||
09 | des Worts. | ||||||
10 | Ob Selbstmord auch Muth, oder immer nur Verzagtheit voraussetze, | ||||||
11 | ist nicht eine moralische, sondern blos psychologische Frage. Wenn er verübt | ||||||
12 | wird, blos um seine Ehre nicht zu überleben, also aus Zorn, so scheint | ||||||
13 | er Muth; ist es aber die Erschöpfung der Geduld im Leiden durch Traurigkeit, | ||||||
14 | welche alle Geduld langsam erschöpft, so ist es ein Verzagen. | ||||||
15 | Es scheint dem Menschen eine Art von Heroism zu sein, dem Tode gerade | ||||||
16 | ins Auge zu sehen und ihn nicht zu fürchten, wenn er das Leben nicht | ||||||
17 | länger lieben kann. Wenn er aber, ob er gleich den Tod fürchtet, doch das | ||||||
18 | Leben auf jede Bedingung zu lieben immer nicht aufhören kann, und so | ||||||
19 | eine Gemüthsverwirrung aus Angst vorhergehen muß, um zum Selbstmorde | ||||||
20 | zu schreiten, so stirbt er aus Feigheit, weil er die Qualen des Lebens | ||||||
21 | nicht länger ertragen kann. - Die Art der Vollführung des Selbstmordes | ||||||
22 | giebt diesen Unterschied der Gemüthsstimmung gewissermaßen zu erkennen. | ||||||
23 | Wenn das dazu gewählte Mittel plötzlich und ohne mögliche Rettung | ||||||
24 | tödtend ist; wie z. B. der Pistolenschuß oder (wie es ein großer Monarch | ||||||
25 | auf den Fall, daß er in Gefangenschaft geriethe, im Kriege bei sich führte) | ||||||
26 | ein geschärftes Sublimat, oder tiefes Wasser und mit Steinen angefüllte | ||||||
27 | Taschen: so kann man dem Selbstmörder den Muth nicht streiten. Ist es | ||||||
28 | aber der Strang, der noch von Anderen abgeschnitten, oder gemeines Gift, | ||||||
29 | das durch den Arzt noch aus dem Körper geschafft, oder ein Schnitt in | ||||||
30 | den Hals, der wieder zugenäht und geheilt werden kann; bei welchen Attentaten | ||||||
31 | der Selbstmörder, wenn er noch gerettet wird, gemeiniglich selbst | ||||||
*) Dieses Wort sollte eigentlich Dräustigkeit (von Dräuen oder Drohen), nicht Dreistigkeit geschrieben werden: weil der Ton oder auch die Miene eines solchen Menschen Andere besorgen läßt, er könne auch wohl grob sein. Eben so schreibt man liederlich für lüderlich, da doch das erste einen leichtfertigen, muthwilligen, sonst nicht unbrauchbaren und gutmüthigen, das zweite aber einen verworfenen, jeden Anderen anekelnden Menschen (vom Wort Luder) bedeutet. | |||||||
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