Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 257 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
Verknüpfungen:
|
|
||||
01 | bringt sogar wohlthätige Ausleerungen hervor, welche einen Spott | ||||||
02 | (das Herz nicht am rechten Ort zu haben) sprichwörtlich gemacht haben; | ||||||
03 | man will aber bemerkt haben, daß diejenigen Matrosen, welche bei dem | ||||||
04 | Aufrufe zum Schlagen zum Ort ihrer Entledigung eilen, hernach die muthigsten | ||||||
05 | im Gefechte sind. Eben das bemerkt man doch auch an dem | ||||||
06 | Reiher, wenn der Stoßfalk über ihm schwebt und jener sich zum Gefecht | ||||||
07 | gegen ihn anschickt. | ||||||
08 | Geduld ist demnach nicht Muth. Sie ist eine weibliche Tugend: | ||||||
09 | weil sie nicht Kraft zum Widerstande aufbietet, sondern das Leiden (Dulden) | ||||||
10 | durch Gewohnheit unmerklich zu machen hofft. Der unter dem chirurgischen | ||||||
11 | Messer oder bei Gicht= und Steinschmerzen schreit, ist darum in | ||||||
12 | diesem Zustande nicht feig oder weichlich; es ist so wie das Fluchen, wenn | ||||||
13 | man im Gehen an einen frei liegenden Straßenstein (mit dem großen | ||||||
14 | Zeh, davon das Wort hallucinari hergenommen) stößt, vielmehr ein Ausbruch | ||||||
15 | des Zorns, in welchem die Natur durch Geschrei das Stocken des | ||||||
16 | Bluts am Herzen zu zerstreuen bestrebt ist. - Geduld aber von besonderer | ||||||
17 | Art beweisen die Indianer in Amerika, welche, wenn sie umzingelt | ||||||
18 | sind, ihre Waffen wegwerfen und, ohne um Pardon zu bitten, sich ruhig | ||||||
19 | niedermachen lassen. Ist nun hiebei mehr Muth, als die Europäer zeigen, | ||||||
20 | die sich in diesem Fall bis auf den letzten Mann wehren? Mir scheint | ||||||
21 | es blos eine barbarische Eitelkeit zu sein: ihrem Stamm dadurch die Ehre | ||||||
22 | zu erhalten, daß ihr Feind sie zu Klagen und Seufzern als Beweisthümern | ||||||
23 | ihrer Unterwerfung nicht sollte zwingen können. | ||||||
24 | Der Muth als Affect (mithin einerseits zur Sinnlichkeit gehörend) | ||||||
25 | kann aber auch durch Vernunft erweckt und so wahre Tapferkeit (Tugendstärke) | ||||||
26 | sein. Sich durch Sticheleien und mit Witz geschärfte, eben dadurch | ||||||
27 | aber nur desto gefährlichere spöttische Verhöhnungen dessen, was ehrwürdig | ||||||
28 | ist, nicht abschrecken zu lassen, sondern seinen Gang standhaft zu verfolgen, | ||||||
29 | ist ein moralischer Muth, den mancher nicht besitzt, welcher in der | ||||||
30 | Feldschlacht oder dem Duell sich als einen Braven beweiset. Es gehört | ||||||
31 | nämlich zur Entschlossenheit etwas, was die Pflicht gebietet selbst auf die | ||||||
32 | Gefahr der Verspottung von Anderen zu wagen, sogar ein hoher Grad | ||||||
33 | von Muth, weil Ehrliebe die beständige Begleiterin der Tugend ist, und | ||||||
34 | der, welcher sonst wider Gewalt hinreichend gefaßt ist, doch der Verhöhnung | ||||||
35 | sich selten gewachsen fühlt, wenn man ihm diesen Anspruch auf Ehre | ||||||
36 | mit Hohnlachen verweigert. | ||||||
37 | Der Anstand, der einen äußeren Anschein von Muth giebt, sich in | ||||||
[ Seite 256 ] [ Seite 258 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |