Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 247

   
         
 

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  01 Gestalten (Zusammenstellungen des Sinnlichen) in ihrer Einbildungskraft    
  02 hervorbringen.*)    
         
  03 Weil die Dichtergabe ein Kunstgeschick und, mit Geschmack verbunden,    
  04 ein Talent für schöne Kunst ist, die zum Theil auf (obzwar süße, oft    
  05 auch indirect heilsame) Täuschung ausgeht, so kann es nicht fehlen, daß    
  06 von ihr nicht großer (oft auch nachtheiliger) Gebrauch im Leben gemacht    
  07 werde. - Über den Charakter des Dichters also, oder auch über den Einfluß,    
  08 den sein Geschäft auf ihn und Andere hat, und die Würdigung desselben    
  09 verlohnt es wohl einige Fragen und Bemerkungen aufzustellen.    
         
  10 Warum gewinnt unter den schönen (redenden) Künsten die Poesie    
  11 den Preis über die Beredsamkeit bei eben denselben Zwecken? - Weil sie    
  12 zugleich Musik (singbar) und Ton, ein für sich allein angenehmer Laut ist,    
  13 dergleichen die bloße Sprache nicht ist. Selbst die Beredsamkeit borgt von    
  14 der Poesie einen dem Ton nahe kommenden Laut, den Accent, ohne    
  15 welchen die Rede der nöthigen dazwischen kommenden Augenblicke der    
  16 Ruhe und der Belebung entbehrte. Die Poesie gewinnt aber nicht blos    
  17 den Preis über die Beredsamkeit, sondern auch über jede andere schöne    
  18 Kunst: über die Malerei (wozu die Bildhauerkunst gehört) und selbst über    
  19 die Musik. Denn die letztere ist nur darum schöne (nicht blos angenehme)    
  20 Kunst, weil sie der Poesie zum Vehikel dient. Auch giebt es unter den    
  21 Poeten nicht so viel seichte (zu Geschäften untaugliche) Köpfe, als unter    
  22 den Tonkünstlern: weil jene doch auch zum Verstande, diese aber blos zu    
  23 den Sinnen reden. - Ein gutes Gedicht ist das eindringlichste Mittel der    
  24 Belebung des Gemüths. - - Es gilt aber nicht blos vom Poeten, sondern    
         
    *) Die Neuigkeit der Darstellung eines Begriffs ist eine Hauptforderung der schönen Kunst an den Dichter, wenn gleich der Begriff selbst auch nicht neu sein sollte. - Für den Verstand aber (abgesehen vom Geschmack) hat man folgende Ausdrücke für die Vermehrung unserer Kenntnisse durch neue Wahrnehmung. - Etwas entdecken, zuerst wahrnehmen, was schon da war, z. B. Amerika, die magnetische, nach den Polen sich richtende Kraft, die Luftelektricität. - Etwas erfinden (was noch nicht da war, zur Wirklichkeit bringen), z. B. den Compaß, den Aërostat. Etwas ausfindig machen, das Verlorne durch Nachsuchen wiederfinden. - Ersinnen und ausdenken (z. B. von Werkzeugen für Künstler, oder Maschinen). Erdichten, mit dem Bewußtsein das Unwahre als wahr vorstellig machen, wie in Romanen, wenn es nur zur Unterhaltung geschieht. - Eine für Wahrheit ausgegebene Erdichtung aber ist Lüge. ( Turpiter atrum desinit in piscem mulier formosa superne ) Horat.    
         
     

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