Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 208 |
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01 | nennen, sondern ihm nur Geistesabwesenheit vorwerfen, welche freilich | ||||||
02 | in der Gesellschaft etwas Unschickliches ist. - Es ist also eine nicht | ||||||
03 | gemeine Kunst sich zu zerstreuen, ohne doch jemals zerstreut zu sein; | ||||||
04 | welches letztere, wenn es habituell wird, dem Menschen, der diesem Übel | ||||||
05 | unterworfen ist, das Ansehen eines Träumers giebt und ihn für die Gesellschaft | ||||||
06 | unnütze macht, indem er seiner durch keine Vernunft geordneten | ||||||
07 | Einbildungskraft in ihrem freien Spiel blindlings folgt. - Das Romanlesen | ||||||
08 | hat außer manchen anderen Verstimmungen des Gemüths auch | ||||||
09 | dieses zur Folge, daß es die Zerstreuung habituell macht. Denn ob es | ||||||
10 | gleich durch Zeichnung von Charakteren, die sich wirklich unter Menschen | ||||||
11 | auffinden lassen (wenn gleich mit einiger Übertreibung), den Gedanken | ||||||
12 | einen Zusammenhang als in einer wahren Geschichte giebt, deren Vortrag | ||||||
13 | immer auf gewisse Weise systematisch sein muß, so erlaubt es doch | ||||||
14 | zugleich dem Gemüth, während dem Lesen Abschweifungen (nämlich noch | ||||||
15 | andere Begebenheiten als Erdichtungen) mit einzuschieben, und der Gedankengang | ||||||
16 | wird fragmentarisch, so daß man die Vorstellungen eines | ||||||
17 | und desselben Objects zerstreut ( sparsim ), nicht verbunden ( conjunctim ) | ||||||
18 | nach Verstandeseinheit im Gemüthe spielen läßt. Der Lehrer von der | ||||||
19 | Kanzel oder im akademischen Hörsaal, oder auch der Gerichtsankläger | ||||||
20 | oder Advocat, wenn er im freien Vortrage (aus dem Stegreif), allenfalls | ||||||
21 | auch im Erzählen Gemüthsfassung beweisen soll, muß drei Aufmerksamkeiten | ||||||
22 | beweisen: erstlich des Sehens auf das, was er jetzt sagt, um es klar | ||||||
23 | vorzustellen; zweitens des Zurücksehens auf das, was er gesagt hat, | ||||||
24 | und dann drittens des Vorhersehens auf das, was er eben nun sagen | ||||||
25 | will. Denn unterläßt er die Aufmerksamkeit auf eines dieser drei Stücke, | ||||||
26 | nämlich sie in dieser Ordnung zusammenzustellen, so bringt er sich selbst | ||||||
27 | und seinen Zuhörer oder Leser in Zerstreuung, und ein sonst guter Kopf | ||||||
28 | kann doch nicht von sich ablehnen, ein confuser zu heißen. | ||||||
29 | § 48. Ein an sich gesunder Verstand (ohne Gemüthsschwäche) kann | [ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 229)] | |||||
30 | doch auch mit Schwächen in Ansehung seiner Ausübung begleitet sein, | ||||||
31 | die entweder Aufschub zum Wachsthum bis zur gehörigen Reife, oder | ||||||
32 | auch Stellvertretung seiner Person durch eine andere in Ansehung | ||||||
33 | der Geschäfte, die von bürgerlicher Qualität sind, nothwendig machen. | ||||||
34 | Die (natürliche oder gesetzliche) Unfähigkeit eines übrigens gesunden Menschen | ||||||
35 | zum eigenen Gebrauch seines Verstandes in bürgerlichen Geschäften | ||||||
36 | heißt Unmündigkeit; ist diese in der Unreife des Alters gegründet, so | ||||||
37 | heißt sie Minderjährigkeit (Minorennität); beruht sie aber auf gesetzlichen | ||||||
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