Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 181

   
         
 

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  01 Gewohnheit Abspannung der Gemüthskräfte. Daher ist die Bezähmung    
  02 seiner Einbildungskraft durch frühes Schlafengehen, um früh wieder aufstehen    
  03 zu können, eine zur psychologischen Diät gehörige sehr nützliche    
  04 Regel; das Frauenzimmer aber und die Hypochondristen (die gemeiniglich    
  05 eben daher ihr Übel haben) lieben mehr das entgegengesetzte Verhalten.    
  06 Warum lassen sich Geistergeschichten in später Nacht noch wohl anhören,    
  07 die am Morgen bald nach dem Aufstehen jedem abgeschmackt und für die    
  08 Unterhaltung ganz unschicklich vorkommen; wo man dagegen frägt: was    
  09 Neues im Haus= oder gemeinen Wesen vorgefallen sei, oder seine Arbeit    
  10 des vorigen Tages fortsetzt? Die Ursache ist: weil, was an sich blos    
  11 Spiel ist, dem Nachlassen der den Tag über erschöpften Kräfte, was aber    
  12 Geschäfte ist, dem durch die Nachtruhe gestärkten und gleichsam neugebornen    
  13 Menschen angemessen ist.    
         
  14 Die Vergehungen ( vitia ) der Einbildungskraft sind: daß ihre Dichtungen    
  15 entweder blos zügellos oder gar regellos sind ( effrenis aut    
  16 perversa ). Der letztere Fehler ist der ärgste. Die erstern Dichtungen    
  17 könnten doch wohl in einer möglichen Welt (der Fabel) ihre Stelle finden;    
  18 die letztern in gar keiner, weil sie sich widersprechen. - Daß die    
  19 in der libyschen Wüste Ras=Sem häufig anzutreffenden in Stein gehauenen    
  20 Menschen= und Thiergestalten von den Arabern mit Grauen angesehen    
  21 werden, weil sie solche für durch den Fluch versteinerte Menschen halten,    
  22 gehört zu Einbildungen der ersteren Gattung, nämlich der zügellosen Einbildungskraft.    
  23 - Daß aber nach der Meinung derselben Araber diese Bildsäulen    
  24 von Thieren am Tage der allgemeinen Auferstehung den Künstler    
  25 anschnarchen und ihm es verweisen werden, daß er sie gemacht und ihnen    
  26 doch keine Seele habe geben können, ist ein Widerspruch. - Die zügellose    
  27 Phantasie kann immer noch einbeugen (wie die jenes Dichters, den der Cardinal    
  28 Este bei Überreichung des ihm gewidmeten Buchs fragte: "Meister    
  29 Ariosto, wo, Henker, habt ihr alles das tolle Zeug her?"); sie ist Üppigkeit    
  30 aus ihrem Reichthum; aber die regellose nähert sich dem Wahnsinn, wo    
  31 die Phantasie gänzlich mit dem Menschen spielt und der Unglückliche den    
  32 Lauf seiner Vorstellungen gar nicht in seiner Gewalt hat.    
         
  33 Übrigens kann ein politischer Künstler eben so gut wie ein ästhetischer    
  34 durch Einbildungen, die er statt der Wirklichkeit vorzuspielen versteht, z. B.    
  35 von Freiheit des Volks, die (wie die im englischen Parlament), oder des    
  36 Ranges und der Gleichheit (wie im französischen Convent), in bloßen    
  37 Formalien besteht, die Welt leiten und regieren ( mundus vult decipi );    
         
     

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