Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 121 |
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01 | 1. Der Mensch, der es bemerkt, daß man ihn beobachtet und zu erforschen | ||||||
02 | sucht, wird entweder verlegen (genirt) erscheinen, und da kann er | ||||||
03 | sich nicht zeigen, wie er ist; oder er verstellt sich, und da will er nicht | ||||||
04 | gekannt sein, wie er ist. | ||||||
05 | 2. Will er auch nur sich selbst erforschen, so kommt er, vornehmlich | ||||||
06 | was seinen Zustand im Affect betrifft, der alsdann gewöhnlich keine Verstellung | ||||||
07 | zuläßt, in eine kritische Lage: nämlich daß, wenn die Triebfedern | ||||||
08 | in Action sind, er sich nicht beobachtet, und wenn er sich beobachtet, die | ||||||
09 | Triebfedern ruhen. | ||||||
10 | 3. Ort und Zeitumstände bewirken, wenn sie anhaltend sind, Angewöhnungen, | ||||||
11 | die, wie man sagt, eine andere Natur sind und dem | ||||||
12 | Menschen das Urtheil über sich selbst erschweren, wofür er sich halten, vielmehr | ||||||
13 | aber noch, was er aus dem Anderen, mit dem er im Verkehr ist, sich | ||||||
14 | für einen Begriff machen soll; denn die Veränderung der Lage, worein | ||||||
15 | der Mensch durch sein Schicksal gesetzt ist, oder in die er sich auch als | ||||||
16 | Abenteuer selbst setzt, erschweren es der Anthropologie sehr, sie zum | ||||||
17 | Rang einer förmlichen Wissenschaft zu erheben. | ||||||
18 | Endlich sind zwar eben nicht Quellen, aber doch Hülfsmittel zur Anthropologie: | ||||||
19 | Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane. | ||||||
20 | Denn obzwar beiden letzteren eigentlich nicht Erfahrung und Wahrheit, | ||||||
21 | sondern nur Erdichtung untergelegt wird, und Übertreibung der Charaktere | ||||||
22 | und Situationen, worein Menschen gesetzt werden, gleich als im Traumbilde | ||||||
23 | aufzustellen, hier erlaubt ist, jene also nichts für die Menschenkenntniß | ||||||
24 | zu lehren scheinen, so haben doch jene Charaktere, so wie sie etwa ein Richardson | ||||||
25 | oder Moliere entwarf, ihren Grundzügen nach aus der Beobachtung | ||||||
26 | des wirklichen Thuns und Lassens der Menschen genommen werden | ||||||
27 | müssen: weil sie zwar im Grade übertrieben, der Qualität nach aber doch | ||||||
28 | mit der menschlichen Natur übereinstimmend sein müssen. | ||||||
29 | Eine systematisch entworfene und doch populär (durch Beziehung auf | ||||||
30 | Beispiele, die sich dazu von jedem Leser auffinden lassen) in pragmatischer | ||||||
31 | Hinsicht abgefaßte Anthropologie führt den Vortheil für das lesende | ||||||
32 | Publicum bei sich: daß durch die Vollständigkeit der Titel, unter welche | ||||||
33 | diese oder jene menschliche, ins Praktische einschlagende beobachtete Eigenschaft | ||||||
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