Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 103 |
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01 | um die Zeit zwischen seiner eigenen Abfütterung und dem Schlaf auszufüllen. | ||||||
02 | Eine alte begüterte Frau fand diese Ausfüllung am Spinnrade | ||||||
03 | unter dabei eingemischten unbedeutenden Gesprächen und klagte daher in | ||||||
04 | ihrem sehr hohen Alter, gleich als über den Verlust einer guten Gesellschaft, | ||||||
05 | daß, da sie nunmehr den Faden zwischen den Fingern nicht mehr | ||||||
06 | fühlen könnte, sie vor langer Weile zu sterben Gefahr liefe. | ||||||
07 | Doch damit mein Discurs über das lange Leben Ihnen nicht auch | ||||||
08 | lange Weile mache und eben dadurch gefährlich werde, will ich der Sprachseligkeit, | ||||||
09 | die man als einen Fehler des Alters zu belächlen, wenn gleich | ||||||
10 | nicht zu schelten pflegt, hiemit Grenzen setzen. | ||||||
11 | 1. |
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12 | Von der Hypochondrie. |
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13 | Die Schwäche, sich seinen Krankhaften Gefühlen überhaupt, ohne ein | ||||||
14 | bestimmtes Object, muthlos zu überlassen (mithin ohne den Versuch zu | ||||||
15 | machen über sie durch die Vernunft Meister zu werden), - die Grillenkrankheit | ||||||
16 | ( hypochondria vaga ),*) welche gar keinen bestimmten Sitz im | ||||||
17 | Körper hat und ein Geschöpf der Einbildungskraft ist und daher auch die | ||||||
18 | dichtende heißen könnte - wo der Patient alle Krankheiten, von denen | ||||||
19 | er in Büchern liest, an sich zu bemerken glaubt, ist das gerade Widerspiel | ||||||
20 | jenes Vermögens des Gemüths über seine krankhafte Gefühle Meister zu | ||||||
21 | sein, nämlich Verzagtheit, über Übel, welche Menschen zustoßen könnten, | ||||||
22 | zu brüten, ohne, wenn sie kämen, ihnen widerstehen zu können; eine Art | ||||||
23 | von Wahnsinn, welchem freilich wohl irgend ein Krankheitsstoff (Blähung | ||||||
24 | oder Verstopfung) zum Grunde liegen mag, der aber nicht unmittelbar, | ||||||
25 | wie er den Sinn afficirt, gefühlt, sondern als bevorstehendes Übel von der | ||||||
26 | dichtenden Einbildungskraft vorgespiegelt wird; wo dann der Selbstquäler | ||||||
27 | ( heautontimorumenos ), statt sich selbst zu ermannen, vergeblich die Hülfe | ||||||
28 | des Arztes aufruft: weil nur er selbst durch die Diätetik seines Gedankenspiels | ||||||
29 | belästigende Vorstellungen, die sich unwillkürlich einfinden, und | ||||||
30 | zwar von Übeln, wider die sich doch nichts veranstalten ließe, wenn sie sich | ||||||
31 | wirklich einstellten, aufheben kann. - Von dem, der mit dieser Krankheit | ||||||
32 | behaftet, und so lange er es ist, kann man nicht verlangen, er solle seiner | ||||||
33 | krankhaften Gefühle durch den bloßen Vorsatz Meister werden. Denn | ||||||
*) Zum Unterschiede von der topischen ( hypochondria intestinalis ). | |||||||
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