Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 099

   
         
 

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  01 Selbstbeobachtung aufzutreten wage, muß ich noch etwas über die    
  02 Art bemerken, wie Herr Hufeland die Aufgabe der Diätetik, d. i. der    
  03 Kunst stellt, Krankheiten vorzubeugen, im Gegensatz mit der Therapeutik,    
  04 sie zu heilen.    
         
  05 Sie heißt ihm "die Kunst das menschliche Leben zu verlängern."    
         
  06 Er nimmt seine Benennung von demjenigen her, was die Menschen    
  07 am sehnsüchtigsten wünschen, ob es gleich vielleicht weniger wünschenswerth    
  08 sein dürfte. Sie möchten zwar gern zwei Wünsche zugleich thun:    
  09 nämlich lange zu leben und dabei gesund zu sein; aber der erstere    
  10 Wunsch hat den letzteren nicht zur nothwendigen Bedingung: sondern er    
  11 ist unbedingt. Laßt den Hospitalkranken Jahre lang auf seinem Lager    
  12 leiden und darben und ihn oft wünschen hören, daß ihn der Tod je eher    
  13 je lieber von dieser Plage erlösen möge; glaubt ihm nicht, es ist nicht sein    
  14 Ernst. Seine Vernunft sagt es ihm zwar vor, aber der Naturinstinct will    
  15 es anders. Wenn er dem Tode als seinem Befreier ( jovi liberatori ) winkt,    
  16 so verlangt er doch immer noch eine kleine Frist und hat immer irgend    
  17 einen Vorwand zur Vertagung ( procrastinatio ) seines peremtorischen    
  18 Decrets. Der in wilder Entrüstung gefaßte Entschluß des Selbstmörders,    
  19 seinem Leben ein Ende zu machen, macht hievon keine Ausnahme: denn    
  20 er ist die Wirkung eines bis zum Wahnsinn exaltirten Affects. - Unter    
  21 den zwei Verheißungen für die Befolgung der Kindespflicht ("auf daß    
  22 dir es wohlgehe, und du lange lebest auf Erden") enthält die letztere die    
  23 stärkere Triebfeder, selbst im Urtheile der Vernunft, nämlich als Pflicht,    
  24 deren Beobachtung zugleich verdienstlich ist.    
         
  25 Die Pflicht, das Alter zu ehren, gründet sich nämlich eigentlich    
  26 nicht auf die billige Schonung, die man den Jüngeren gegen die Schwachheit    
  27 der Alten zumuthet: denn die ist kein Grund zu einer ihnen schuldigen    
  28 Achtung. Das Alter will also noch für etwas Verdienstliches angesehen    
  29 werden, weil ihm eine Verehrung zugestanden wird. Also nicht    
  30 etwa weil Nestorjahre zugleich durch viele und lange Erfahrung erworbene    
  31 Weisheit zu Leitung der jüngeren Welt bei sich führen, sondern blos    
  32 weil, wenn nur keine Schande dasselbe befleckt hat, der Mann, welcher sich    
  33 so lange erhalten hat, d. i. der Sterblichkeit als dem demüthigendsten    
  34 Ausspruch, der über ein vernünftiges Wesen nur gefällt werden kann ("du    
  35 bist Erde und sollst zu Erde werden"), so lange hat ausweichen und gleichsam    
  36 der Unsterblichkeit hat abgewinnen können, weil, sage ich, ein solcher    
  37 Mann sich so lange lebend erhalten und zum Beispiel aufgestellt hat.    
         
     

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