Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 057 |
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01 | nicht natürlich zugehen könne, sich aber wieder darin von einander trennen, | ||||||
02 | daß der eine Theil den fürchterlichen Kampf mit dem bösen Geiste, um | ||||||
03 | von dessen Gewalt los zu kommen, bestehen muß, der andere aber dieses | ||||||
04 | gar nicht nöthig, ja als Werkheiligkeit verwerflich findet, sondern geradezu | ||||||
05 | mit dem guten Geiste Allianz schließt, weil die vorige mit dem bösen (als | ||||||
06 | pactum turpe ) gar keinen Einspruch dagegen verursachen kann; da dann | ||||||
07 | die Wiedergeburt als einmal für allemal vorgehende übernatürliche und | ||||||
08 | radicale Revolution im Seelenzustande auch wohl äußerlich einen Sectenunterschied | ||||||
09 | aus so sehr gegen einander abstechenden Gefühlen beider Parteien, | ||||||
10 | kennbar machen dürfte.*) | ||||||
11 | 3) Der Beweis: daß, wenn, was Nr. 2 verlangt worden, geschehen, | ||||||
12 | die Aufgabe Nr. 1 dadurch aufgelöset sein werde. - Dieser Beweis ist | ||||||
13 | unmöglich. Denn der Mensch müßte beweisen, daß in ihm eine übernatürliche | ||||||
14 | Erfahrung, die an sich selbst ein Widerspruch ist, vorgegangen sei. | ||||||
15 | Es könnte allenfalls eingeräumt werden, daß der Mensch in sich eine Erfahrung | ||||||
16 | (z. B. von neuen und besseren Willensbestimmungen ) gemacht | ||||||
17 | hätte, von einer Veränderung, die er sich nicht anders als durch ein Wunder | ||||||
18 | zu erklären weiß, also von etwas Übernatürlichem. Aber eine Erfahrung, | ||||||
19 | von der er sich sogar nicht einmal, daß sie in der That Erfahrung sei, | ||||||
20 | überführen kann, weil sie (als übernatürlich) auf keine Regel der Natur | ||||||
21 | unseres Verstandes zurückgeführt und dadurch bewährt werden kann, ist | ||||||
22 | eine Ausdeutung gewisser Empfindungen, von denen man nicht weiß, was | ||||||
23 | man aus ihnen machen soll, ob sie als zum Erkenntniß gehörig einen | ||||||
24 | wirklichen Gegenstand haben, oder bloße Träumereien sein mögen. Den | ||||||
*) Welche Nationalphysiognomie möchte wohl ein ganzes Volk, welches (wenn dergleichen möglich wäre) in einer dieser Secten erzogen wäre, haben? Denn daß eine solche sich zeigen würde, ist wohl nicht zu zweifeln: weil oft wiederholte, vornehmlich widernatürliche Eindrücke aufs Gemüth sich in Geberdung und Ton der Sprache äußeren, und Mienen endlich stehende Gesichtszüge werden. Beate, oder wie sie Hr. Nicolai nennt, gebenedeiete Gesichter würden es von anderen gesitteten und aufgeweckten Völkern (eben nicht zu seinem Vortheil) unterscheiden; denn es ist Zeichnung der Frömmigkeit in Caricatur. Aber nicht die Verachtung der Frömmigkeit ist es, was den Namen der Pietisten zum Sectennamen gemacht hat (mit dem immer eine gewisse Verachtung verbunden ist), sondern die phantastische und bei allem Schein der Demuth stolze Anmaßung sich als übernatürlich=begünstigte Kinder des Himmels auszuzeichnen, wenn gleich ihr Wandel, so viel man sehen kann, vor dem der von ihnen so benannten Weltkinder in der Moralität nicht den mindesten Vorzug zeigt. | |||||||
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