Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 025 |
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01 | Orts sanctionirten Gesetzbuch. Den Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit | ||||||
02 | derselben, ingleichen die Vertheidigung wider die dagegen gemachte | ||||||
03 | Einwendung der Vernunft kann man billigerweise von ihm nicht | ||||||
04 | fordern. Denn die Verordnungen machen allererst, daß etwas recht ist, | ||||||
05 | und nun nachzufragen, ob auch die Verordnungen selbst recht sein mögen, | ||||||
06 | muß von den Juristen als ungereimt gerade zu abgewiesen werden. Es | ||||||
07 | wäre lächerlich, sich dem Gehorsam gegen einen äußern und obersten Willen | ||||||
08 | darum, weil dieser angeblich nicht mit der Vernunft übereinstimmt, | ||||||
09 | entziehen zu wollen. Denn darin besteht eben das Ansehen der Regierung, | ||||||
10 | daß sie den Unterthanen nicht die Freiheit läßt, nach ihren eigenen Begriffen, | ||||||
11 | sondern nach Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt über Recht und | ||||||
12 | Unrecht zu urtheilen. | ||||||
13 | In einem Stücke aber ist es mit der Juristenfacultät für die Praxis | ||||||
14 | doch besser bestellt, als mit der theologischen: daß nämlich jene einen sichtbaren | ||||||
15 | Ausleger der Gesetze hat, nämlich entweder an einem Richter, oder | ||||||
16 | in der Appellation von ihm an einer Gesetzcommission und (in der höchsten) | ||||||
17 | am Gesetzgeber selbst, welches in Ansehung der auszulegenden | ||||||
18 | Sprüche eines heiligen Buchs der theologischen Facultät nicht so gut wird. | ||||||
19 | Doch wird dieser Vorzug andererseits durch einen nicht geringeren Nachtheil | ||||||
20 | aufgewogen, nämlich daß die weltlichen Gesetzbücher der Veränderung | ||||||
21 | unterworfen bleiben müssen, nachdem die Erfahrung mehr oder bessere | ||||||
22 | Einsichten gewährt, dahingegen das heilige Buch keine Veränderung (Verminderung | ||||||
23 | oder Vermehrung) statuirt und für immer geschlossen zu sein | ||||||
24 | behauptet. Auch findet die Klage der Juristen, daß es beinah vergeblich | ||||||
25 | sei, eine genau bestimmte Norm der Rechtspflege ( ius certum ) zu hoffen, | ||||||
26 | beim biblischen Theologen nicht statt. Denn dieser läßt sich den Anspruch | ||||||
27 | nicht nehmen, daß seine Dogmatik nicht eine solche klare und auf alle | ||||||
28 | Fälle bestimmte Norm enthalte. Wenn überdem die juristischen Praktiker | ||||||
29 | (Advocaten oder Justizcommissarien), die dem Clienten schlecht gerathen | ||||||
30 | und ihn dadurch in Schaden versetzt haben, darüber doch nicht verantwortlich | ||||||
31 | sein wollen ( ob consilium nemo tenetur ), so nehmen es doch die | ||||||
32 | theologischen Geschäftsmänner (Prediger und Seelsorger) ohne Bedenken | ||||||
33 | auf sich und stehen dafür, nämlich dem Tone nach, daß alles so auch in | ||||||
34 | der künftigen Welt werde abgeurtheilt werden, als sie es in dieser abgeschlossen | ||||||
35 | haben; obgleich, wenn sie aufgefordert würden, sich förmlich zu | ||||||
36 | erklären, ob sie für die Wahrheit alles dessen, was sie auf biblische Autorität | ||||||
37 | geglaubt wissen wollen, mit ihrer Seele Gewähr zu leisten sich getraueten, | ||||||
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