Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 010 |
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01 | als Herzenskündiger Rechenschaft geben müsse, die gegenwärtige mir wegen | ||||||
02 | meiner Lehre abgeforderte Verantwortung als mit völliger Gewissenhaftigkeit | ||||||
03 | abgefaßt freimüthig einreichen kann. | ||||||
04 | Was den zweiten Punkt betrifft, mir keine dergleichen (angeschuldigte) | ||||||
05 | Entstellung und Herabwürdigung des Christenthums künftighin | ||||||
06 | zu Schulden kommen zu lassen: so halte ich, um auch dem mindesten Verdachte | ||||||
07 | darüber vorzubeugen, für das Sicherste, hiemit, als Ew. Königl. | ||||||
08 | Maj. getreuester Unterthan,*) feierlichst zu erklären: daß ich mich | ||||||
09 | fernerhin aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die | ||||||
10 | natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich | ||||||
11 | enthalten werde. | ||||||
12 | In tiefster Devotion ersterbe ich etc. | ||||||
13 | Die weitere Geschichte des fortwährenden Treibens zu einem sich | ||||||
14 | immer mehr von der Vernunft entfernenden Glauben ist bekannt. | ||||||
15 | Die Prüfung der Candidaten zu geistlichen Ämtern ward nun einer | ||||||
16 | Glaubenscommission anvertraut, der ein Schema Examinationis nach | ||||||
17 | pietistischem Zuschnitte zum Grunde lag, welche gewissenhafte Candidaten | ||||||
18 | der Theologie zu Schaaren von geistlichen Ämtern verscheuchte und die | ||||||
19 | Juristenfacultät übervölkerte; eine Art von Auswanderung, die zufälligerweise | ||||||
20 | nebenbei auch ihren Nutzen gehabt haben mag. -Um einen kleinen | ||||||
21 | Begriff vom Geiste dieser Commission zu geben: so ward nach der Forderung | ||||||
22 | einer vor der Begnadigung nothwendig vorhergehenden Zerknirschung | ||||||
23 | noch ein tiefer reuiger Gram ( maeror animi ) erfordert und von diesem | ||||||
24 | nun gefragt, ob ihn der Mensch sich auch selbst geben könne. quod negandum | ||||||
25 | ac pernegandum , war die Antwort; der reuevolle Sünder muß sich | ||||||
26 | diese Reue besonders vom Himmel erbitten. -Nun fällt ja in die Augen: | ||||||
27 | daß den, welcher um Reue (über seine Übertretung) noch bitten muß, seine | ||||||
28 | That wirklich nicht reuet; welches eben so widersprechend aussieht, als wenn | ||||||
29 | es vom Gebet heißt: es müsse, wenn es erhörlich sein soll, im Glauben | ||||||
30 | geschehen. Denn wenn der Beter den Glauben hat, so braucht er nicht | ||||||
31 | darum zu bitten: hat er ihn aber nicht, so kann er nicht erhörlich bitten. | ||||||
32 | Diesem Unwesen ist nunmehr gesteuret. Denn nicht allein zum | ||||||
33 | bürgerlichen Wohl des gemeinen Wesens überhaupt, dem Religion ein | ||||||
*)Auch diesen Ausdruck wählte ich vorsichtig, damit ich nicht der Freiheit meines Urtheils in diesem Religionsproceß auf immer, sondern nur so lange Se. Maj. am Leben wäre, entsagte. | |||||||
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