Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 471

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 äußere Bezeichnung des inneren herzlich gemeinten Wohlwollens, ohne es      
  02 doch auf die Probe, als die immer gefährlich ist, ankommen zu lassen, gemeint      
  03 sein, indem ein jeder großmüthig den Anderen dieser Last zu überheben,      
  04 sie für sich allein zu tragen, ja ihm sie gänzlich zu verhehlen bedacht      
  05 ist, sich aber immer doch damit schmeicheln kann, daß im Falle der Noth      
  06 er auf den Beistand des Andern sicher würde rechnen können. Wenn aber      
  07 Einer von dem Andern eine Wohlthat annimmt, so kann er wohl vielleicht      
  08 auf Gleichheit in der Liebe, aber nicht in der Achtung rechnen, denn      
  09 er sieht sich offenbar eine Stufe niedriger, verbindlich zu sein und nicht      
  10 gegenseitig verbinden zu können. - Freundschaft ist bei der Süßigkeit der      
  11 Empfindung des bis zum Zusammenschmelzen in eine Person sich annähernden      
  12 wechselseitigen Besitzes doch zugleich etwas so Zartes ( teneritas      
  13 amicitiae ), daß, wenn man sie auf Gefühle beruhen läßt und dieser      
  14 wechselseitigen Mittheilung und Ergebung nicht Grundsätze oder das Gemeinmachen      
  15 verhütende und die Wechselliebe durch Forderungen der Achtung      
  16 einschränkende Regeln unterlegt, sie keinen Augenblick vor Unterbrechungen      
  17 sicher ist; dergleichen unter uncultivirten Personen gewöhnlich      
  18 sind, ob sie zwar darum eben nicht immer Trennung bewirken (denn      
  19 Pöbel schlägt sich und Pöbel verträgt sich) ; sie können von einander nicht      
  20 lassen, aber sich auch nicht unter einander einigen, weil das Zanken selbst      
  21 ihnen Bedürfniß ist, um die Süßigkeit der Eintracht in der Versöhnung      
  22 zu schmecken. - Auf alle Fälle aber kann die Liebe in der Freundschaft      
  23 nicht Affect sein: weil dieser in der Wahl blind und in der Fortsetzung      
  24 verrauchend ist.      
           
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§ 47.
     
           
  26 Moralische Freundschaft (zum Unterschiede von der ästhetischen)      
  27 ist das völlige Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung      
  28 ihrer geheimen Urtheile und Empfindungen, so weit sie mit beiderseitiger      
  29 Achtung gegen einander bestehen kann.      
           
  30 Der Mensch ist ein für die Gesellschaft bestimmtes (obzwar doch auch      
  31 ungeselliges) Wesen, und in der Cultur des gesellschaftlichen Zustandes      
  32 fühlt er mächtig das Bedürfniß sich Anderen zu eröffnen (selbst ohne      
  33 etwas dabei zu beabsichtigen); andererseits aber auch durch die Furcht vor      
  34 dem Mißbrauch, den Andere von dieser Aufdeckung seiner Gedanken      
  35 machen dürften, beengt und gewarnt, sieht er sich genöthigt, einen guten      
  36 Theil seiner Urtheile (vornehmlich über andere Menschen) in sich selbst zu      
           
     

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