Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 472 |
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01 | verschließen. Er möchte sich gern darüber mit irgend jemand unterhalten, | ||||||
02 | wie er über die Menschen, mit denen er umgeht, wie er über die | ||||||
03 | Regierung, Religion etc. denkt; aber er darf es nicht wagen: theils weil | ||||||
04 | der Andere, der sein Urtheil behutsam zurückhält, davon zu seinem Schaden | ||||||
05 | Gebrauch machen, theils, was die Eröffnung seiner eigenen Fehler betrifft, | ||||||
06 | der Andere die seinigen verhehlen und er so in der Achtung desselben einbüßen | ||||||
07 | würde, wenn er sich ganz offenherzig gegen ihn darstellte. | ||||||
08 | Findet er also einen, der Verstand hat, bei dem er in Ansehung jener | ||||||
09 | Gefahr gar nicht besorgt sein darf, sondern dem er sich mit völligem Vertrauen | ||||||
10 | eröffnen kann, der überdem auch eine mit der seinigen übereinstimmende | ||||||
11 | Art die Dinge zu beurtheilen an sich hat, so kann er seinen Gedanken | ||||||
12 | Luft machen; er ist mit seinen Gedanken nicht völlig allein, wie | ||||||
13 | im Gefängniß, und genießt eine Freiheit, der er in dem großen Haufen | ||||||
14 | entbehrt, wo er sich in sich selbst verschließen muß. Ein jeder Mensch hat | ||||||
15 | Geheimnisse und darf sich nicht blindlings Anderen anvertrauen; theils | ||||||
16 | wegen der unedlen Denkungsart der Meisten, davon einen ihm nachtheiligen | ||||||
17 | Gebrauch zu machen, theils wegen des Unverstandes mancher in der | ||||||
18 | Beurtheilung und Unterscheidung dessen, was sich nachsagen läßt, oder | ||||||
19 | nicht (der Indiscretion), welche Eigenschaften zusammen in einem Subject | ||||||
20 | anzutreffen selten ist ( rara avis in terris et nigro simillima cygno ); zumal | ||||||
21 | da die engste Freundschaft es verlangt, daß dieser verständige und vertraute | ||||||
22 | Freund zugleich verbunden ist, ebendasselbe ihm anvertraute Geheimni | ||||||
23 | einem anderen, für eben so zuverlässig gehaltenen ohne des ersteren | ||||||
24 | ausdrückliche Erlaubniß nicht mitzutheilen. | ||||||
25 | Diese (blos moralische Freundschaft) ist kein Ideal, sondern (der | ||||||
26 | schwarze Schwan) existirt wirklich hin und wieder in seiner Vollkommenheit; | ||||||
27 | jene aber mit den Zwecken anderer Menschen sich, obzwar aus Liebe, | ||||||
28 | belästigende (pragmatische) kann weder die Lauterkeit, noch die verlangte | ||||||
29 | Vollständigkeit haben, die zu einer genau bestimmenden Maxime erforderlich | ||||||
30 | ist, und ist ein Ideal des Wunsches, das im Vernunftbegriffe keine | ||||||
31 | Grenzen kennt, in der Erfahrung aber doch immer sehr begrenzt werden | ||||||
32 | muß. | ||||||
33 | Ein Menschenfreund überhaupt aber (d. i. der ganzen Gattung) | ||||||
34 | ist der, welcher an dem Wohl aller Menschen ästhetischen Antheil (der | ||||||
35 | Mitfreude) nimmt und es nie ohne inneres Bedauren stören wird. Doch | ||||||
36 | ist der Ausdruck eines Freundes der Menschen noch von etwas engerer | ||||||
37 | Bedeutung, als der des blos Menschenliebenden (Philanthrop). Denn | ||||||
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