Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 394 |
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| 01 | b) Moralisches Wohlsein Anderer ( salubritas moralis ) gehört | ||||||
| 02 | auch zu der Glückseligkeit Anderer, die zu befördern für uns Pflicht, aber | ||||||
| 03 | nur negative Pflicht ist. Der Schmerz, den ein Mensch von Gewissensbissen | ||||||
| 04 | fühlt, obzwar sein Ursprung moralisch ist, ist doch der Wirkung nach | ||||||
| 05 | physisch, wie der Gram, die Furcht und jeder andere krankhafte Zustand. | ||||||
| 06 | Zu verhüten, daß jenen dieser innere Vorwurf nicht verdienterweise treffe, | ||||||
| 07 | ist nun zwar eben nicht meine Pflicht, sondern seine Sache; wohl aber | ||||||
| 08 | nichts zu thun, was nach der Natur des Menschen Verleitung sein könnte | ||||||
| 09 | zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, welches man | ||||||
| 10 | Skandal nennt. - Aber es sind keine bestimmte Gränzen, innerhalb welchen | ||||||
| 11 | sich diese Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit Anderer halten | ||||||
| 12 | ließe; daher ruht auf ihr nur eine weite Verbindlichkeit. | ||||||
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| 15 | Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung | ||||||
| 16 | seiner Pflicht. - Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie | ||||||
| 17 | überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, | ||||||
| 18 | welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können, und da der | ||||||
| 19 | Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg | ||||||
| 20 | legt, so ist die Tugend nicht blos ein Selbstzwang (denn da könnte eine | ||||||
| 21 | Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang | ||||||
| 22 | nach einem Princip der innern Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung | ||||||
| 23 | seiner Pflicht nach dem formalen Gesetz derselben. | ||||||
| 24 | Alle Pflichten enthalten einen Begriff der Nöthigung durch das | ||||||
| 25 | Gesetz; die ethische eine solche, wozu nur eine innere, die Rechtspflichten | ||||||
| 26 | dagegen eine solche Nöthigung, wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich | ||||||
| 27 | ist; beide also eines Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Zwang | ||||||
| 28 | durch einen Andern sein: da dann das moralische Vermögen des ersteren | ||||||
| 29 | Tugend und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) | ||||||
| 30 | entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann, | ||||||
| 31 | obgleich das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt. Denn es ist die Tugendlehre, | ||||||
| 32 | welche gebietet das Recht der Menschen heilig zu halten. | ||||||
| 33 | Aber was zu thun Tugend ist, das ist darum noch nicht sofort eigentliche | ||||||
| 34 | Tugendpflicht. Jenes kann blos das Formale der Maximen betreffen, | ||||||
| 35 | diese aber geht auf die Materie derselben, nämlich auf einen | ||||||
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