Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 366

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Rechts, sie anzunehmen oder auszuschlagen. In diesem Augenblicke sieht      
  02 er sich bei Eröffnung des Testaments, daß er schon vor der Acceptation      
  03 der Erbschaft vermögender geworden ist, als er war; denn er hat ausschließlich      
  04 die Befugniß zu acceptiren erworben, welche schon ein Vermögensumstand      
  05 ist. - Daß hiebei ein bürgerlicher Zustand vorausgesetzt      
  06 wird, um etwas zu dem Seinen eines Anderen zu machen, wenn man      
  07 nicht mehr da ist, dieser Übergang des Besitzthums aus der Todtenhand      
  08 ändert in Ansehung der Möglichkeit der Erwerbung nach allgemeinen      
  09 Principien des Naturrechts nichts, wenn gleich der Anwendung derselben      
  10 auf den vorkommenden Fall eine bürgerliche Verfassung zum Grunde gelegt      
  11 werden muß. - Eine Sache nämlich, die ohne Bedingung anzunehmen      
  12 oder auszuschlagen in meiner freien Wahl gestellt wird, heißt res      
  13 iacens . Wenn der Eigenthümer einer Sache mir etwas, z. B. ein Möbel      
  14 des Hauses, aus dem ich auszuziehen eben im Begriff bin, umsonst anbietet      
  15 (verspricht, es soll mein sein), so habe ich, so lange er nicht widerruft      
  16 (welches, wenn er darüber stirbt, unmöglich ist), ausschließlich ein      
  17 Recht zur Acceptation des Angebotenen ( ius in re iacente ), d. i. ich allein      
  18 kann es annehmen oder ausschlagen, wie es mir beliebt: und dieses Recht      
  19 ausschließlich zu wählen erlange ich nicht vermittelst eines besonderen      
  20 rechtlichen Acts meiner Declaration, ich wolle, dieses Recht solle mir zustehen,      
  21 sondern ohne denselben ( lege ). - Ich kann also zwar mich dahin      
  22 erklären, ich wolle, die Sache solle mir nicht angehören (weil diese      
  23 Annahme mir Verdrießlichkeiten mit Anderen zuziehen dürfte), aber ich      
  24 kann nicht wollen, ausschließlich die Wahl zu haben, ob sie mir angehören      
  25 solle oder nicht; denn dieses Recht (des Annehmens oder Ausschlagens)      
  26 habe ich ohne alle Declaration meiner Annahme unmittelbar      
  27 durchs Angebot: denn wenn ich sogar die Wahl zu haben ausschlagen      
  28 könnte, so würde ich wählen nicht zu wählen; welches ein Widerspruch ist.      
  29 Dieses Recht zu wählen geht nun im Augenblicke des Todes des Erblassers      
  30 auf mich über, durch dessen Vermächtniß ( institutio haeredis ) ich      
  31 zwar noch nichts von der Habe und Gut des Erblassers, aber doch den      
  32 bloß=rechtlichen (intelligibelen) Besitz dieser Habe oder eines Theils      
  33 derselben erwerbe: deren Annahme ich mich nun zum Vortheil Anderer      
  34 begeben kann, mithin dieser Besitz keinen Augenblick unterbrochen ist, sondern      
  35 die Succession als eine stetige Reihenfolge vom Sterbenden zum eingesetzten      
  36 Erben durch seine Acceptation übergeht und so der Satz: testamenta      
  37 sunt iuris naturae wider alle Zweifel befestigt wird.      
           
           
     

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