Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 365

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 weit gefehlt, daß dieses sich auf jenen gründen sollte. Also ist die      
  02 Ersitzung ( usucapio ) als Erwerbung durch den langen Gebrauch einer      
  03 Sache ein sich selbst widersprechender Begriff. Die Verjährung der Ansprüche      
  04 als Erhaltungsart ( conservatio possessionis meae per praescriptionem )      
  05 ist es nicht weniger: indessen doch ein von dem vorigen unterschiedener      
  06 Begriff, was das Argument der Zueignung betrifft. Es ist      
  07 nämlich ein negativer Grund, d. i. der gänzliche Nichtgebrauch seines      
  08 Rechts, selbst nicht einmal der, welcher nöthig ist, um sich als Besitzer zu      
  09 manifestiren, für eine Verzichtthuung auf dieselbe ( derelictio ), welche      
  10 ein rechtlicher Act, d. i. Gebrauch seines Rechts gegen einen anderen, ist,      
  11 um durch Ausschließung desselben vom Anspruche ( per praescriptionem )      
  12 das Object desselben zu erwerben, welches einen Widerspruch enthält.      
           
  13 Ich erwerbe also ohne Beweisführung und ohne allen rechtlichen      
  14 Act: ich brauche nicht zu beweisen, sondern durchs Gesetz ( lege ); und was      
  15 dann? Die öffentliche Befreiung von Ansprüchen, d. i. die gesetzliche      
  16 Sicherheit meines Besitzes, dadurch daß ich nicht den Beweis führen      
  17 darf und mich auf einen ununterbrochenen Besitz gründe. Daß aber alle      
  18 Erwerbung im Naturstande bloß provisorisch ist, das hat keinen Einfluß      
  19 auf die Frage von der Sicherheit des Besitzes des Erworbenen, welche      
  20 vor jener vorhergehen muß.      
           
  21
7.
     
  22
Von der Beerbung.
     
           
  23 Was das Recht der Beerbung anlangt, so hat den Herrn Recensenten      
  24 diesesmal sein Scharfblick, den Nerven des Beweises meiner Behauptung      
  25 zu treffen, verlassen. - Ich sage ja nicht S. 135: daß ein jeder Mensch      
  26 nothwendigerweise jede ihm angebotene Sache, durch deren Annehmung      
  27 er nur gewinnen, nichts verlieren kann, annehme (denn solche Sachen giebt      
  28 es gar nicht), sondern daß ein jeder das Recht des Angebots in demselben      
  29 Augenblick unvermeidlich und stillschweigend, dabei aber doch gültig      
  30 immer wirklich annehme: wenn es nämlich die Natur der Sache so mit sich      
  31 bringt, daß der Widerruf schlechterdings unmöglich ist, nämlich im Augenblicke      
  32 seines Todes; denn da kann der Promittent nicht widerrufen, und der      
  33 Promissar ist, ohne irgend einen rechtlichen Act begehen zu dürfen, in demselben      
  34 Augenblick Acceptant, nicht der versprochenen Erbschaft, sondern des      
           
     

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