Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 364 |
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01 | ehrlichen Besitz eine ideale Erwerbung, wie sie hier genannt wird, begründet | ||||||
02 | werde, so wäre gar keine Erwerbung peremtorisch gesichert. (Aber | ||||||
03 | Hr. K. nimmt ja selbst im Naturzustande eine nur provisorische Erwerbung | ||||||
04 | an und dringt deswegen auf die juristische Nothwendigkeit der bürgerlichen | ||||||
05 | Verfassung. - - Ich behaupte mich als ehrlicher Besitzer aber | ||||||
06 | nur gegen den, der nicht beweisen kann, daß er eher als ich ehrlicher | ||||||
07 | Besitzer derselben Sache war und mit seinem Willen zu sein nicht aufgehört | ||||||
08 | hat.)" - - Davon ist nun hier nicht die Rede, sondern ob ich | ||||||
09 | mich auch als Eigenthümer behaupten kann, wenn sich gleich ein Prätendent | ||||||
10 | als früherer wahrer Eigenthümer der Sache melden sollte, die | ||||||
11 | Erkundung aber seiner Existenz als Besitzer und seines Besitzstandes als | ||||||
12 | Eigenthümers schlechterdings unmöglich war; welches letztere alsdann | ||||||
13 | zutrifft, wenn dieser gar kein öffentlich gültiges Zeichen seines ununterbrochenen | ||||||
14 | Besitzes (es sei aus eigener Schuld oder auch ohne sie), z. B. | ||||||
15 | durch Einschreibung in Matrikeln, oder unwidersprochene Stimmgebung | ||||||
16 | als Eigenthümer in bürgerlichen Versammlungen, von sich gegeben hat. | ||||||
17 | Denn die Frage ist hier: wer soll eine rechtmäßige Erwerbung beweisen? | ||||||
18 | Dem Besitzer kann diese Verbindlichkeit ( onus probandi ) nicht | ||||||
19 | aufgebürdet werden; denn er ist, so weit wie seine constatirte Geschichte | ||||||
20 | reicht, im Besitz derselben. Der frühere angebliche Eigenthümer der Sache | ||||||
21 | ist durch eine Zwischenzeit, innerhalb deren er keine bürgerlich gültige | ||||||
22 | Zeichen seines Eigenthums gab, von der Reihe der auf einander folgenden | ||||||
23 | Besitzer nach Rechtsprincipien ganz abgeschnitten. Diese Unterlassung | ||||||
24 | irgend eines öffentlichen Besitzacts macht ihn zu einem unbetitelten Prätendenten. | ||||||
25 | (Dagegen heißt es hier wie bei der Theologie: conservatio est | ||||||
26 | continua creatio. ) Wenn sich auch ein bisher nicht manifestirter, obzwar | ||||||
27 | hinten nach mit aufgefundenen Documenten versehener Prätendent | ||||||
28 | vorfände, so würde doch wiederum auch bei diesem der Zweifel vorwalten, | ||||||
29 | ob nicht ein noch älterer Prätendent dereinst auftreten und seine Ansprüche | ||||||
30 | auf den früheren Besitz gründen könnte. - Auf die Länge der Zeit des | ||||||
31 | Besitzes kommt es hiebei gar nicht an, um die Sache endlich zu ersitzen | ||||||
32 | ( acquirere per usucapionem ). Denn es ist ungereimt, anzunehmen, daß | ||||||
33 | ein Unrecht dadurch, daß es lange gewährt hat, nachgerade ein Recht | ||||||
34 | werde. Der (noch so lange) Gebrauch setzt das Recht in der Sache voraus: | ||||||
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