Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 363

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 (d. i. für die Gattung) Rücksicht genommen werden müsse, und      
  02 zwar aus bloßen Rechtsgründen, indem ich das ius talionis der Form nach      
  03 noch immer für die einzige a priori bestimmende (nicht aus der Erfahrung,      
  04 welche Heilmittel zu dieser Absicht die kräftigsten wären, hergenommene)      
  05 Idee als Princip des Strafrechts halte.*) - Wie wird es aber mit den      
  06 Strafen gehalten werden, die keine Erwiederung zulassen, weil diese      
  07 entweder an sich unmöglich, oder selbst ein strafbares Verbrechen an der      
  08 Menschheit überhaupt sein würden, wie z. B. das der Nothzüchtigung,      
  09 imgleichen das der Päderastie, oder Bestialität? Die beiden ersteren durch      
  10 Castration (entweder wie eines weißen oder schwarzen Verschnittenen im      
  11 Serail), das letztere durch Ausstoßung aus der bürgerlichen Gesellschaft      
  12 auf immer, weil er sich selbst der menschlichen unwürdig gemacht hat.      
  13 Per quod quis peccat, per idem punitur et idem. - Die gedachten Verbrechen      
  14 heißen darum unnatürlich, weil sie an der Menschheit selbst ausgeübt      
  15 werden. - Willkürlich Strafen für sie zu verhängen ist dem Begriff      
  16 einer Straf=Gerechtigkeit buchstäblich zuwider. Nur dann kann      
  17 der Verbrecher nicht klagen, daß ihm unrecht geschehe, wenn er seine Übelthat      
  18 sich selbst über den Hals zieht, und ihm, wenn gleich nicht dem Buchstaben,      
  19 doch dem Geiste des Strafgesetzes gemäß das widerfährt, was er      
  20 an anderen verbrochen hat.      
           
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6.
     
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Vom Recht der Ersitzung.
     
           
  23 "Das Recht der Ersitzung ( Usucapio ) soll nach S. 131 ff. durchs      
  24 Naturrecht begründet werden. Denn nähme man nicht an, daß durch den      
           
    *) In jeder Bestrafung liegt etwas das Ehrgefühl des Angeklagten (mit Recht) Kränkendes, weil sie einen bloßen einseitigen Zwang enthält und so an ihm die Würde eines Staatsbürgers, als eines solchen, in einem besonderen Fall wenigstens suspendirt ist: da er einer äußeren Pflicht unterworfen wird, der er seinerseits keinen Widerstand entgegen setzen darf. Der Vornehme und Reiche, der auf den Beutel geklopft wird, fühlt mehr seine Erniedrigung sich unter den Willen des geringeren Mannes beugen zu müssen, als den Geldverlust. Die Strafgerechtigkeit ( iustitia punitiva ), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist ( quia peccatum est ), mu hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist ( ne peccetur ) und sich auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden und hat in der Topik der Rechtsbegriffe einen ganz anderen Ort, [Seitenumbruch] locus iusti , nicht des conducibilis oder des Zuträglichen in gewisser Absicht, noch auch den des bloßen honesti , dessen Ort in der Ethik aufgesucht werden muß.      
           
     

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