Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 255 |
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| 01 | beide auf die Gültigkeit zweier einander widerstreitenden Bedingungen | ||||||
| 02 | gleichen Anspruch machen, wird die Vernunft auch in | ||||||
| 03 | ihrem praktischen (das Recht betreffenden) Gebrauch genöthigt, zwischen | ||||||
| 04 | dem Besitz als Erscheinung und dem bloß durch den Verstand | ||||||
| 05 | denkbaren einen Unterschied zu machen. | ||||||
| 06 | Der Satz heißt: Es ist möglich, etwas Äußeres als das | ||||||
| 07 | Meine zu haben, ob ich gleich nicht im Besitz desselben bin. | ||||||
| 08 | Der Gegensatz: Es ist nicht möglich, etwas Äußeres als | ||||||
| 09 | das Meine zu haben, wenn ich nicht im Besitz desselben bin. | ||||||
| 10 | Auflösung: Beide Sätze sind wahr: der erstere, wenn ich den | ||||||
| 11 | empirischen Besitz ( possessio phaenomenon ), der andere, wenn ich | ||||||
| 12 | unter diesem Wort den reinen intelligibelen Besitz ( possessio noumenon ) | ||||||
| 13 | verstehe. - Aber die Möglichkeit eines intelligibelen Besitzes, | ||||||
| 14 | mithin auch des äußeren Mein und Dein läßt sich nicht einsehen, | ||||||
| 15 | sondern muß aus dem Postulat der praktischen Vernunft | ||||||
| 16 | gefolgert werden, wobei es noch besonders merkwürdig ist: daß diese | ||||||
| 17 | ohne Anschauungen, selbst ohne einer a priori zu bedürfen, sich durch | ||||||
| 18 | bloße, vom Gesetz der Freiheit berechtigte Weglassung empirischer | ||||||
| 19 | Bedingungen erweitere und so synthetische Rechtssätze a priori | ||||||
| 20 | aufstellen kann, deren Beweis (wie bald gezeigt werden soll) nachher | ||||||
| 21 | in praktischer Rücksicht auf analytische Art geführt werden kann. | ||||||
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| 26 | Wenn ich (wörtlich oder durch die That) erkläre: ich will, daß etwas | ||||||
| 27 | Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden Anderen für verbindlich, | ||||||
| 28 | sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, | ||||||
| 29 | die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Act haben würde. In dieser | ||||||
| 30 | Anmaßung aber liegt zugleich das Bekenntniß: jedem Anderen in Ansehung | ||||||
| 31 | des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung | ||||||
| 32 | verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen | ||||||
| 33 | Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor. Ich bin | ||||||
| 34 | also nicht verbunden, das äußere Seine des Anderen unangetastet zu | ||||||
| 35 | lassen, wenn mich nicht jeder Andere dagegen auch sicher stellt, er werde | ||||||
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