Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 250

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Besitzes ist analytisch; denn er sagt nichts mehr, als was nach      
  02 dem Satz des Widerspruchs aus dem letzteren folgt, daß nämlich, wenn      
  03 ich Inhaber einer Sache (mit ihr also physisch verbunden) bin, derjenige,      
  04 der sie wider meine Einwilligung afficirt (z. B. mir den Apfel aus der      
  05 Hand reißt), das innere Meine (meine Freiheit) afficire und schmälere,      
  06 mithin in seiner Maxime mit dem Axiom des Rechts im geraden Widerspruch      
  07 stehe. Der Satz von einem empirischen rechtmäßigen Besitz geht      
  08 also nicht über das Recht einer Person in Ansehung ihrer selbst hinaus.      
           
  09 Dagegen geht der Satz von der Möglichkeit des Besitzes einer Sache      
  10 außer mir nach Absonderung aller Bedingungen des empirischen Besitzes      
  11 im Raum und Zeit (mithin die Voraussetzung der Möglichkeit einer      
  12 possessio noumenon ) über jene einschränkende Bedingungen hinaus, und      
  13 weil er einen Besitz auch ohne Inhabung als nothwendig zum Begriffe      
  14 des äußeren Mein und Dein statuirt, so ist er synthetisch, und nun      
  15 kann es zur Aufgabe für die Vernunft dienen, zu zeigen, wie ein solcher      
  16 sich über den Begriff des empirischen Besitzes erweiternde Satz a priori      
  17 möglich sei.      
           
  18 Auf solche Weise ist z. B. die Besitzung eines absonderlichen Bodens      
  19 ein Act der Privatwillkür, ohne doch eigenmächtig zu sein. Der Besitzer      
  20 fundirt sich auf dem angebornen Gemeinbesitze des Erdbodens und      
  21 dem diesem a priori entsprechenden allgemeinen Willen eines erlaubten      
  22 Privatbesitzes auf demselben (weil ledige Sachen sonst an sich und nach      
  23 einem Gesetze zu herrenlosen Dingen gemacht werden würden) und erwirbt      
  24 durch die erste Besitzung ursprünglich einen bestimmten Boden, indem er      
  25 jedem Andern mit Recht ( iure ) widersteht, der ihn im Privatgebrauch desselben      
  26 hindern würde, obzwar als im natürlichen Zustande nicht von rechtswegen      
  27 ( de iure ), weil in demselben noch kein öffentliches Gesetz existirt.      
           
  28 Wenn auch gleich ein Boden als frei, d. i. zu jedermanns Gebrauch      
  29 offen, angesehen oder dafür erklärt würde, so kann man doch nicht sagen,      
  30 daß er es von Natur und ursprünglich, vor allem rechtlichen Act, frei      
  31 sei, denn auch das wäre ein Verhältniß zu Sachen, nämlich dem Boden,      
  32 der jedermann seinen Besitz verweigerte; sondern weil diese Freiheit des      
  33 Bodens ein Verbot für jedermann sein würde sich desselben zu bedienen;      
  34 wozu ein gemeinsamer Besitz desselben erfordert wird, der ohne Vertrag      
  35 nicht statt finden kann. Ein Boden aber, der nur durch diesen frei sein      
  36 kann, muß wirklich im Besitze aller derer (zusammen Verbundenen) sein, die      
  37 sich wechselseitig den Gebrauch desselben untersagen oder ihn suspendiren.      
           
           
     

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