Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 225

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur Pflicht macht, ist      
  02 ein praktisches Gesetz. Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus      
  03 subjectiven Gründen zum Princip macht, heißt seine Maxime; daher bei      
  04 einerlei Gesetzen doch die Maximen der Handelnden sehr verschieden sein      
  05 können.      
           
  06 Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit      
  07 sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein      
  08 allgemeines Gesetz gelten kann! - Deine Handlungen mußt du also zuerst      
  09 nach ihrem subjectiven Grundsatze betrachten: ob aber dieser Grundsatz      
  10 auch objectiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine      
  11 Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als      
  12 allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung      
  13 qualificire.      
           
  14 Die Einfachheit dieses Gesetzes in Vergleichung mit den großen und      
  15 mannigfaltigen Folgerungen, die daraus gezogen werden können, imgleichen      
  16 das gebietende Ansehen, ohne daß es doch sichtbar eine Triebfeder      
  17 bei sich führt, muß freilich anfänglich befremden. Wenn man aber in      
  18 dieser Verwunderung über ein Vermögen unserer Vernunft, durch die      
  19 bloße Idee der Qualification einer Maxime zur Allgemeinheit eines      
  20 praktischen Gesetzes die Willkür zu bestimmen, belehrt wird: daß eben diese      
  21 praktischen Gesetze (die moralischen) eine Eigenschaft der Willkür zuerst      
  22 kund machen, auf die keine speculative Vernunft weder aus Gründen      
  23 a priori, noch durch irgend eine Erfahrung gerathen hätte und, wenn sie      
  24 darauf gerieth, ihre Möglichkeit theoretisch durch nichts darthun könnte,      
  25 gleichwohl aber jene praktischen Gesetze diese Eigenschaft, nämlich die Freiheit,      
  26 unwidersprechlich darthun: so wird es weniger befremden, diese Gesetze      
  27 gleich mathematischen Postulaten unerweislich und doch apodiktisch      
  28 zu finden, zugleich aber ein ganzes Feld von praktischen Erkenntnissen      
  29 vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit derselben Idee der      
  30 Freiheit, ja jeder anderen ihrer Ideen des Übersinnlichen im Theoretischen      
  31 alles schlechterdings vor ihr verschlossen finden muß. Die Übereinstimmung      
  32 einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die Gesetzmäßigkeit      
  33 ( legalitas ) - die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit      
  34 ( moralitas ) derselben. Maxime aber ist das subjective Princip      
  35 zu handeln, was sich das Subject selbst zur Regel macht (wie es nämlich      
  36 handeln will). Dagegen ist der Grundsatz der Pflicht das, was ihm      
  37 die Vernunft schlechthin, mithin objectiv gebietet (wie es handeln soll).      
           
           
     

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