Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 223

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gesetz. Weil aber Verbindlichkeit nicht bloß praktische Nothwendigkeit      
  02 (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nöthigung      
  03 enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot      
  04 oder Verbot=Gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als      
  05 Pflicht vorgestellt wird. Eine Handlung, die weder geboten noch verboten      
  06 ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die      
  07 Freiheit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht      
  08 giebt. Eine solche Handlung heißt sittlich=gleichgültig ( indifferens,      
  09 adiaphoron, res merae facultatis ). Man kann fragen: ob es dergleichen      
  10 gebe, und, wenn es solche giebt, ob dazu, daß es jemanden      
  11 freistehe, etwas nach seinem Belieben zu thun oder zu lassen, außer      
  12 dem Gebotgesetze ( lex praeceptiva, lex mandati ) und dem Verbotgesetze      
  13 ( lex prohibitiva, lex vetiti ) noch ein Erlaubnißgesetz ( lex      
  14 permissiva ) erforderlich sei. Wenn dieses ist, so würde die Befugniß      
  15 nicht allemal eine gleichgültige Handlung ( adiaphoron ) betreffen;      
  16 denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet,      
  17 würde kein besonderes Gesetz erfordert werden.      
           
  18 That heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit      
  19 steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freiheit      
  20 seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen      
  21 Act als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusammt der Handlung      
  22 selbst können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz      
  23 kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruht.      
           
  24 Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung      
  25 fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders,      
  26 als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen      
  27 (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner      
  28 selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden),      
  29 woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen,      
  30 die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst      
  31 giebt, unterworfen ist.      
           
  32 Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein jedes      
  33 Object der freien Willkür, welches selbst der Freiheit ermangelt, heißt      
  34 daher Sache ( res corporalis ).      
           
  35 Recht oder unrecht ( rectum aut minus rectum ) überhaupt ist eine      
  36 That, sofern sie pflichtmäßig oder pflichtwidrig ( factum licitum aut illicitum )      
           
     

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