Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 200 |
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01 | Erweiterndes in sich und ist ein gutes Mittel, eine Gemeinde zu | ||||||
02 | der darunter vorgestellten sittlichen Gesinnung der brüderlichen Liebe zu | ||||||
03 | beleben. Daß aber Gott mit der Celebrirung dieser Feierlichkeit besondere | ||||||
04 | Gnaden verbunden habe, zu rühmen und den Satz, daß sie, die doch | ||||||
05 | bloß eine kirchliche Handlung ist, doch noch dazu ein Gnadenmittel sei, | ||||||
06 | unter die Glaubensartikel aufzunehmen, ist ein Wahn der Religion, der | ||||||
07 | nicht anders als dem Geiste derselben gerade entgegen wirken kann. | ||||||
08 | Pfaffenthum also würde überhaupt die usurpirte Herrschaft der Geistlichkeit | ||||||
09 | über die Gemüther sein, dadurch daß sie, im ausschließlichen Besitz | ||||||
10 | der Gnadenmittel zu sein, sich das Ansehn gäbe. | ||||||
11 | Alle dergleichen erkünstelte Selbsttäuschungen in Religionssachen | ||||||
12 | haben einen gemeinschaftlichen Grund. Der Mensch wendet sich gewöhnlicher | ||||||
13 | Weise unter allen göttlichen moralischen Eigenschaften, der Heiligkeit, | ||||||
14 | der Gnade und der Gerechtigkeit, unmittelbar an die zweite, um so | ||||||
15 | die abschreckende Bedingung, den Forderungen der ersteren gemäß zu sein, | ||||||
16 | zu umgehen. Es ist mühsam, ein guter Diener zu sein (man hört da | ||||||
17 | immer nur von Pflichten sprechen); er möchte daher lieber ein Favorit | ||||||
18 | sein, wo ihm vieles nachgesehen, oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht | ||||||
19 | verstoßen worden, alles durch Vermittelung irgend eines im höchsten | ||||||
20 | Grade Begünstigten wiederum gut gemacht wird, indessen daß er immer | ||||||
21 | der lose Knecht bleibt, der er war. Um sich aber auch wegen der Thunlichkeit | ||||||
22 | dieser seiner Absicht mit einigem Scheine zu befriedigen, trägt er seinen | ||||||
23 | Begriff von einem Menschen (zusammt seinen Fehlern) wie gewöhnlich | ||||||
24 | auf die Gottheit über; und so wie auch an den besten Oberen von | ||||||
25 | unserer Gattung die gesetzgebende Strenge, die wohlthätige Gnade und | ||||||
26 | die pünktliche Gerechtigkeit nicht (wie es sein sollte) jede abgesondert und | ||||||
27 | für sich zum moralischen Effect der Handlungen des Unterthans hinwirken, | ||||||
28 | sondern sich in der Denkungsart des menschlichen Oberherrn bei Fassung | ||||||
29 | seiner Rathschlüsse vermischen, man also nur der einen dieser | ||||||
30 | Eigenschaften, der gebrechlichen Weisheit des menschlichen Willens, beizukommen | ||||||
31 | suchen darf, um die beiden andern zur Nachgiebigkeit zu bestimmen: | ||||||
32 | so hofft er dieses auch dadurch bei Gott auszurichten, indem er sich | ||||||
33 | bloß an seine Gnade wendet. (Daher war es auch eine für die Religion | ||||||
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