Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 201 |
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01 | wichtige Absonderung der gedachten Eigenschaften, oder vielmehr Verhältnisse | ||||||
02 | Gottes zum Menschen, durch die Idee einer dreifachen Persönlichkeit, | ||||||
03 | welcher analogisch jene gedacht werden soll, jede besonders kenntlich zu | ||||||
04 | machen.) Zu diesem Ende befleißigt er sich aller erdenklichen Förmlichkeiten, | ||||||
05 | wodurch angezeigt werden soll, wie sehr er die göttlichen Gebote | ||||||
06 | verehre, um nicht nöthig zu haben, sie zu beobachten; und damit seine | ||||||
07 | thatlosen Wünsche auch zur Vergütung der Übertretung derselben dienen | ||||||
08 | mögen, ruft er: "Herr! Herr!" um nur nicht nöthig zu haben, "den Willen | ||||||
09 | des himmlischen Vaters zu thun", und so macht er sich von den Feierlichkeiten | ||||||
10 | im Gebrauch gewisser Mittel zur Belebung wahrhaft praktischer | ||||||
11 | Gesinnungen den Begriff, als von Gnadenmitteln an sich selbst; giebt sogar | ||||||
12 | den Glauben, daß sie es sind, selbst für ein wesentliches Stück der | ||||||
13 | Religion (der gemeine Mann gar für das Ganze derselben) aus und überläßt | ||||||
14 | es der allgütigen Vorsorge, aus ihm einen bessern Menschen zu | ||||||
15 | machen, indem er sich der Frömmigkeit (einer passiven Verehrung des | ||||||
16 | göttlichen Gesetzes) statt der Tugend (der Anwendung eigener Kräfte zur | ||||||
17 | Beobachtung der von ihm verehrten Pflicht) befleißigt, welche letztere doch | ||||||
18 | mit der ersteren verbunden, allein die Idee ausmachen kann, die man | ||||||
19 | unter dem Worte Gottseligkeit (wahre Religionsgesinnung) versteht. | ||||||
20 | Wenn der Wahn dieses vermeinten Himmelsgünstlings bis | ||||||
21 | zur schwärmerischen Einbildung gefühlter besonderer Gnadenwirkungen | ||||||
22 | in ihm steigt (bis sogar zur Anmaßung der Vertraulichkeit eines vermeinten | ||||||
23 | verborgenen Umgangs mit Gott), so ekelt ihm gar endlich die Tugend | ||||||
24 | an und wird ihm ein Gegenstand der Verachtung; daher es denn kein | ||||||
25 | Wunder ist, wenn öffentlich geklagt wird: daß Religion noch immer so | ||||||
26 | wenig zur Besserung der Menschen beiträgt, und das innere Licht ("unter | ||||||
27 | dem Scheffel") dieser Begnadigten nicht auch äußerlich durch gute Werke | ||||||
28 | leuchten will, und zwar (wie man nach diesem ihrem Vorgeben wohl fordern | ||||||
29 | könnte) vorzüglich vor anderen natürlich=ehrlichen Menschen, welche | ||||||
30 | die Religion nicht zur Ersetzung, sondern zur Beförderung der Tugendgesinnung, | ||||||
31 | die in einem guten Lebenswandel thätig erscheint, kurz und gut | ||||||
32 | in sich aufnehmen. Der Lehrer des Evangeliums hat gleichwohl diese | ||||||
33 | äußere Beweisthümer äußerer Erfahrung selbst zum Probirstein an die | ||||||
34 | Hand gegeben, woran als an ihren Früchten man sie und ein jeder sich | ||||||
35 | selbst erkennen kann. Noch aber hat man nicht gesehen, daß jene ihrer | ||||||
36 | Meinung nach außerordentlich Begünstigten (Auserwählten) es dem natürlichen | ||||||
37 | ehrlichen Manne, auf den man im Umgange, in Geschäften und | ||||||
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