Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 198

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Besserung Beziehung hat, bei der Stimmung ihres Gemüths zur      
  02 Religion gern in Hofdienst verwandeln, wo die Demüthigungen und Lobpreisungen      
  03 gemeiniglich desto weniger moralisch empfunden werden, jemehr      
  04 sie wortreich sind: so ist vielmehr nöthig, selbst bei der frühesten mit      
  05 Kindern, die des Buchstabens noch bedürfen, angestellten Gebetsübung      
  06 sorgfältig einzuschärfen, daß die Rede (selbst innerlich ausgesprochen, ja      
  07 sogar die Versuche, das Gemüth zur Fassung der Idee von Gott, die sich      
  08 einer Anschauung nähern soll, zu stimmen) hier nicht an sich etwas gelte,      
  09 sondern es nur um die Belebung der Gesinnung zu einem Gott wohlgefälligen      
  10 Lebenswandel zu thun sei, wozu jene Rede nur ein Mittel für die      
  11 Einbildungskraft ist; weil sonst alle jene devote Ehrfurchtsbezeugungen      
  12 Gefahr bringen, nichts als erheuchelte Gottesverehrung statt eines praktischen      
  13 Dienstes desselben, der nicht in bloßen Gefühlen besteht, zu bewirken.      
           
  15 2. Das Kirchengehen, als feierlicher äußerer Gottesdienst      
  16 überhaupt in einer Kirche gedacht, ist in Betracht, daß es eine sinnliche      
  17 Darstellung der Gemeinschaft der Gläubigen ist, nicht allein ein für jeden      
  18 Einzelnen zu seiner Erbauung*) anzupreisendes Mittel, sondern auch      
  19 ihnen als Bürgern eines hier auf Erden vorzustellenden göttlichen Staats      
  20 für das ganze unmittelbar obliegende Pflicht; vorausgesetzt, daß diese      
           
    *) Wenn man eine diesem Ausdrucke angemessene Bedeutung sucht, so ist sie wohl nicht anders anzugeben, als daß darunter die moralische Folge aus der Andacht auf das Subject verstanden werde. Diese besteht nun nicht in der Rührung (als welche schon im Begriffe der Andacht liegt), obzwar die meisten vermeintlich Andächtigen (die darum auch Andächtler heißen) sie gänzlich darin setzen; mithin muß das Wort Erbauung die Folge aus der Andacht auf die wirkliche Besserung des Menschen bedeuten. Diese aber gelingt nicht anders, als daß man systematisch zu Werke geht, feste Grundsätze nach wohlverstandenen Begriffen tief ins Herz legt, darauf Gesinnungen, der verschiedenen Wichtigkeit der sie angehenden Pflichten angemessen, errichtet, sie gegen Anfechtung der Neigungen verwahrt und sichert und so gleichsam einen neuen Menschen als einen Tempel Gottes erbaut. Man sieht leicht, daß dieser Bau nur langsam fortrücken könne; aber es muß wenigstens doch zu sehen sein, daß etwas verrichtet worden. So aber glauben sich Menschen (durch Anhören oder Lesen und Singen) Recht sehr erbaut, indessen daß schlechterdings nichts gebauet, ja nicht einmal Hand ans Werk gelegt worden; vermuthlich weil sie hoffen, daß jenes moralische Gebäude, wie die Mauern von Theben durch die Musik der Seufzer und sehnsüchtiger Wünsche von selbst emporsteigen werde.      
           
     

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