Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 194

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 das Beten, das Fasten, das Almosengeben, die Wallfahrt nach Mekka;      
  02 wovon das Almosengeben allein ausgenommen zu werden verdienen würde,      
  03 wenn es aus wahrer tugendhafter und zugleich religiöser Gesinnung für      
  04 Menschenpflicht geschähe und so auch wohl wirklich für ein Gnadenmittel      
  05 gehalten zu werden verdienen würde: da es hingegen, weil es nach diesem      
  06 Glauben gar wohl mit der Erpressung dessen, was man in der Person der      
  07 armen Gott zum Opfer darbietet, von andern zusammen bestehen kann,      
  08 nicht ausgenommen zu werden verdient).      
           
  09 Es kann nämlich dreierlei Art von Wahnglauben der uns möglichen      
  10 Überschreitung der Grenzen unserer Vernunft in Ansehung des      
  11 Übernatürlichen (das nicht nach Vernunftgesetzen ein Gegenstand weder      
  12 des theoretischen noch praktischen Gebrauchs ist) geben. Erstlich der      
  13 Glaube etwas durch Erfahrung zu erkennen, was wir doch selbst als nach      
  14 objectiven Erfahrungsgesetzen geschehend unmöglich annehmen können      
  15 (der Glaube an Wunder). Zweitens der Wahn das, wovon wir      
  16 selbst durch die Vernunft uns keinen Begriff machen können, doch unter      
  17 unsere Vernunftbegriffe als zu unserm moralischen Besten nöthig aufnehmen      
  18 zu müssen (der Glaube an Geheimnisse). Drittens der Wahn      
  19 durch den Gebrauch bloßer Naturmittel eine Wirkung, die für uns Geheimni      
  20 ist, nämlich den Einfluß Gottes auf unsere Sittlichkeit hervorbringen      
  21 zu können (der Glaube an Gnadenmittel). - Von den zwei      
  22 ersten erkünstelten Glaubensarten haben wir in den allgemeinen Anmerkungen      
  23 zu den beiden nächst vorhergehenden Stücken dieser Schrift gehandelt.      
  24 Es ist uns also jetzt noch übrig von den Gnadenmitteln zu handeln      
  25 (die von Gnadenwirkungen, ) d. i. übernatürlichen moralischen Einflüssen,      
  26 noch unterschieden sind, bei denen wir uns bloß leidend verhalten,      
  27 deren vermeinte Erfahrung aber ein schwärmerischer Wahn ist, der bloß      
  28 zum Gefühl gehört).      
           
  29 1. Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum      
  30 als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen);      
  31 denn es ist ein bloß erklärtes Wünschen gegen ein Wesen,      
  32 das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf,      
  33 wodurch also nichts gethan und also keine von den Pflichten, die uns als      
  34 Gebote Gottes obliegen, ausgeübt, mithin Gott wirklich nicht gedient wird.      
  35 Ein herzlicher Wunsch, Gott in allem unserm Thun und Lassen wohlgefällig      
           
    *†) S. Allgemeine Anmerkung zum Ersten Stück.      
           
     

[ Seite 193 ] [ Seite 195 ] [ Inhaltsverzeichnis ]