Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 195

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu sein, d. i. die alle unsere Handlungen begleitende Gesinnung, sie,      
  02 als ob sie im Dienste Gottes geschehen, zu betreiben, ist der Geist des      
  03 Gebets, der "ohne Unterlaß" in uns statt finden kann und soll. Diesen      
  04 Wunsch aber (es sei auch nur innerlich) in Worte und Formeln einzukleiden,*)      
  05 kann höchstens nur den Werth eines Mittels zu wiederholter Belebung      
           
    *) In jenem Wunsch, als dem Geiste des Gebets, sucht der Mensch nur auf sich selbst (zu Belebung seiner Gesinnungen vermittelst der Idee von Gott), in diesem aber, da er sich durch Worte, mithin äußerlich erklärt, auf Gott zu wirken. Im ersteren Sinn kann ein Gebet mit voller Aufrichtigkeit statt finden, wenn gleich der Mensch sich nicht anmaßt, selbst das Dasein Gottes als völlig gewiß betheuren zu können; in der zweiten Form als Anrede nimmt er diesen höchsten Gegenstand als persönlich gegenwärtig an, oder stellt sich wenigstens (selbst innerlich) so, als ob er von seiner Gegenwart überführt sei, in der Meinung, daß, wenn es auch nicht so wäre, es wenigstens nicht schaden, vielmehr ihm Gunst verschaffen könne; mithin kann in dem letzteren (buchstäblichen) Gebet die Aufrichtigkeit nicht so vollkommen angetroffen werden, wie im ersteren (dem bloßen Geiste desselben). - Die Wahrheit der letzteren Anmerkung wird ein jeder bestätigt finden, wenn er sich einen frommen und gutmeinenden, übrigens aber in Ansehung solcher gereinigten Religionsbegriffe eingeschränkten Menschen denkt, den ein anderer, ich will nicht sagen, im lauten Beten, sondern auch nur in der dieses anzeigenden Geberdung überraschte. Man wird, ohne daß ich es sage, von selbst erwarten, daß jener darüber in Verwirrung oder Verlegenheit, gleich als über einen Zustand, dessen er sich zu schämen habe, gerathen werde. Warum das aber? Daß ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, daß er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe; und eben so beurtheilt man ihn (nicht ganz mit Unrecht), wenn man ihn, da er allein ist, auf einer Beschäftigung oder Geberdung betrifft, die der nur haben kann, welcher jemand außer sich vor Augen hat, was doch in dem angenommenen Beispiele der Fall nicht ist. - Der Lehrer des Evangeliums hat aber den Geist des Gebets ganz vortrefflich in einer Formel ausgedrückt, welche dieses und hiemit auch sich selbst (als Buchstaben) zugleich entbehrlich macht. In ihr findet man nichts, als den Vorsatz zum guten Lebenswandel, der, mit dem Bewußtsein unserer Gebrechlichkeit verbunden, einen beständigen Wunsch enthält, ein würdiges Glied im Reiche Gottes zu sein; also keine eigentliche bitte um etwas, was uns Gott nach seiner Weisheit auch wohl verweigern könnte, sondern einen Wunsch, der, wenn er ernstlich (thätig) ist, seinen Gegenstand (ein Gott wohlgefälliger Mensch zu werden) selbst hervorbringt. Selbst der Wunsch des Erhaltungsmittels unserer Existenz (des Brods) für einen Tag, da er ausdrücklich nicht auf die Fortdauer derselben gerichtet ist, sondern die Wirkung eines bloß thierischen gefühlten Bedürfnisses ist, ist mehr ein Bekenntniß dessen, was die Natur in uns will, als eine besondere überlegte Bitte dessen, was der Mensch will: dergleichen die um das Brod auf den andern Tag sein würde; welche hier deutlich genug ausgeschlossen wird. - Ein Gebet dieser Art, das in moralischer (nur durch die Idee von [Seitenumbruch] Gott belebter) Gesinnung geschieht, weil es als der moralische Geist des Gebets seinen Gegenstand (Gott wohlgefällig zu sein) selbst hervorbringt, kann allein im Glauben geschehen; welches letztere so viel heißt, als sich der Erhörlichkeit desselben versichert zu halten; von dieser Art aber kann nichts, als die Moralität in uns sein. Denn wenn die Bitte auch nur auf das Brod für den heutigen Tag ginge, so kann niemand sich von der Erhörlichkeit desselben versichert halten, d. i. daß es mit der Weisheit Gottes nothwendig verbunden sei, sie ihm zu gewähren; es kann vielleicht mit derselben besser zusammenstimmen, ihn an diesem Mangel heute sterben zu lassen. Auch ist es ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vortheil für uns) abgebracht werden könne. Also können wir kein Gebet, was einen nicht moralischen Gegenstand hat, mit Gewißheit für erhörlich halten, d. i. um so etwas nicht im Glauben beten. Ja sogar: ob der Gegenstand gleich moralisch, aber doch nur durch übernatürlichen Einfluß möglich wäre (oder wir wenigstens ihn bloß daher erwarteten, weil wir uns nicht selbst darum bemühen wollen, wie z. B. die Sinnesänderung, das Anziehen des neuen Menschen, die Wiedergeburt genannt), so ist es doch so gar sehr ungewiß, ob Gott es seiner Weisheit gemäß finden werde, unsern (selbstverschuldeten) Mangel übernatürlicher Weise zu ergänzen, daß man eher Ursache hat, das Gegentheil zu erwarten. Der Mensch kann also selbst hierum nicht im Glauben beten. - Hieraus läßt sich aufklären, was es mit einem wunderthuenden Glauben (der immer zugleich mit einem inneren Gebet verbunden sein würde) für eine Bewandtni haben könne. Da Gott dem Menschen keine Kraft verleihen kann, übernatürlich zu wirken (weil das ein Widerspruch ist); da der Mensch seinerseits nach den Begriffen, die er sich von guten in der Welt möglichen Zwecken macht, was hierüber die göttliche Weisheit urtheilt, nicht bestimmen und also vermittelst des in und von ihm selbst erzeugten Wunsches die göttliche Macht zu seinen Absichten nicht brauchen kann: so läßt sich eine Wundergabe, eine solche nämlich, da es am Menschen selbst liegt, ob er sie hat oder nicht hat ("wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn", u. s. w.), nach dem Buchstaben genommen, gar nicht denken. Ein solcher Glaube ist also, wenn er überall etwas bedeuten soll, eine bloße Idee von der überwiegenden Wichtigkeit der moralischen Beschaffenheit des Menschen, wenn er sie in ihrer ganzen Gott gefälligen Vollkommenheit (die er doch nie erreicht) besäße, über alle andre Bewegursachen, die Gott in seiner höchsten Weisheit haben mag, mithin ein Grund vertrauen zu können, daß, wenn wir das ganz wären oder einmal würden, was wir sein sollen und (in der beständigen Annäherung) sein könnten, die Natur unseren Wünschen, die aber selbst alsdann nie unweise sein würden, gehorchen müßte. Was aber die Erbauung betrifft, die durchs Kirchengehen beabsichtigt wird, so ist das öffentliche Gebet darin zwar auch kein Gnadenmittel, aber doch eine ethische Feierlichkeit, es sei durch vereinigte Anstimmung des Glaubens=Hymnus, oder auch durch die förmlich durch den Mund des geistlichen im Namen der ganzen Gemeinde [Seitenumbruch] an Gott gerichtete, alle moralische Angelegenheit der Menschen in sich fassende Anrede, welche, da sie diese als öffentliche Angelegenheit vorstellig macht, wo der Wunsch eines jeden mit den Wünschen aller zu einerlei Zwecke (der Herbeiführung des Reichs Gottes) als vereinigt vorgestellt werden soll, nicht allein die Rührung bis zur sittlichen Begeisterung erhöhen kann (anstatt daß die Privatgebete, da sie ohne diese erhabene Idee abgelegt werden, durch Gewohnheit den Einfluß aufs Gemüth nach und nach ganz verlieren), sondern auch mehr Vernunftgrund für sich hat als die erstere, den moralischen Wunsch, der den Geist des Gebets ausmacht, in förmliche Anrede zu kleiden, ohne doch hiebei an Vergegenwärtigung des höchsten Wesens, oder eigene besondere Kraft dieser rednerischen Figur als eines Gnadenmittels zu denken. Denn es ist hier eine besondere Absicht, nämlich durch eine äußere die Vereinigung aller Menschen im gemeinschaftlichen Wunsche des Reichs Gottes vorstellende Feierlichkeit jedes einzelnen moralische Triebfeder desto mehr in Bewegung zu setzen; welches nicht schicklicher geschehen kann, als dadurch daß man das Oberhaupt desselben, gleich als ob es an diesem Orte besonders gegenwärtig wäre, anredet.      
           
     

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