Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 184

     
           
 

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  01 wird nun selbst durch die darauf folgende Versöhnungslehre gestärkt, indem      
  02 sie, was nicht zu ändern ist, als abgethan vorgestellt und nun den Pfad      
  03 zu einem neuen Lebenswandel für uns eröffnet, anstatt daß, wenn diese      
  04 Lehre den Anfang macht, die leere Bestrebung, das Geschehene ungeschehen      
  05 zu machen (die Expiation), die Furcht wegen der Zueignung derselben,      
  06 die Vorstellung unseres gänzlichen Unvermögens zum Guten und die      
  07 Ängstlichkeit wegen des Rückfalls ins Böse dem Menschen den Muth benehmen*)      
  08 und ihn in einen ächzenden moralisch=passiven Zustand, der      
           
    *) Die verschiedenen Glaubensarten der Völker geben ihnen nach und nach auch wohl einen im bürgerlichen Verhältniß äußerlich auszeichnenden Charakter, der ihnen nachher, gleich als ob er Temperamentseigenschaft im Ganzen wäre, beigelegt wird. So zog sich der Judaism seiner ersten Einrichtung nach, da ein Volk sich durch alle erdenkliche, zum Theil peinliche Observanzen von allen andern Völkern absondern und aller Vermischung mit ihnen vorbeugen sollte, den Vorwurf des Menschenhasses zu. Der Mohammedanism unterscheidet sich durch Stolz, weil er statt der Wunder an den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens findet, und seine Andachtsgebräuche alle von der muthigen Art sind†*). Der hinduische Glaube giebt seinen Anhängern den Charakter der Kleinmüthigkeit aus Ursachen, die denen des nächstvorhergehenden gerade entgegengesetzt sind. - Nun liegt es gewiß nicht an der innern Beschaffenheit des christlichen Glaubens, sondern an der Art, wie er an die Gemüther gebracht wird, wenn ihm an denen, die es am herzlichsten mit ihm meinen, aber, vom menschlichen Verderben anhebend und an aller Tugend verzweifelnd, ihr Religionsprincip allein in der Frömmigkeit (worunter der Grundsatz des leidenden Verhaltens in Ansehung der durch eine Kraft von oben zu erwartenden Gottseligkeit verstanden wird) setzen, ein jenem ähnlicher Vorwurf gemacht werden kann: weil sie nie ein Zutrauen in sich selbst setzen, in beständiger Ängstlichkeit sich nach einem übernatürlichen Beistande umsehen und selbst in dieser Selbstverachtung (die nicht Demuth ist) ein Gunst erwerbendes Mittel zu besitzen vermeinen, wovon der äußere Ausdruck (im Pietismus oder der Frömmelei) eine knechtische Gemüthsart ankündigt.      
           
    *†) Diese merkwürdige Erscheinung (des Stolzes eines unwissenden, obgleich verständigen Volks auf seinen Glauben) kann auch von Einbildung des Stifters herrühren, als habe er den Begriff der Einheit Gottes und dessen übersinnlicher Natur allein in der Welt wiederum erneuert, der freilich eine Veredlung seines Volks durch Befreiung vom Bilderdienst und der Anarchie der Vielgötterei sein würde, wenn jener sich dieses Verdienst mit Recht zuschreiben könnte. - Was das Charakteristische der dritten Classe von Religionsgenossen betrifft, welche übel verstandene Demuth zum Grunde hat, so soll die Herabsetzung des Eigendünkels in der Schätzung seines moralischen Werths durch die Vorhaltung der Heiligkeit des Gesetzes nicht Verachtung seiner selbst, sondern vielmehr Entschlossenheit bewirken, [Seitenumbruch] * dieser edlen Anlage in uns gemäß uns der Angemessenheit zu jener immer mehr zu nähern: statt dessen Tugend, die eigentlich im Muthe dazu besteht, als ein des Eigendünkels schon verdächtiger Name, ins Heidenthum verwiesen und kriechende Gunstbewerbung dagegen angepriesen wird. - Andächtelei ( bigotterie , devotio spuria ) ist die Gewohnheit, statt Gott wohlgefälliger Handlungen (in Erfüllung aller Menschenpflichten) in der unmittelbaren Beschäftigung mit Gott durch Ehrfurchtsbezeigungen die Übung der Frömmigkeit zu setzen; welche Übung alsdann zum Frohndienst ( opus operatum ) gezählt werden muß, nur daß sie zu dem Aberglauben noch den schwärmerischen Wahn vermeinter übersinnlichen (himmlischer) Gefühle hinzu thut.      
           
     

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