Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 181 |
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01 | beiden man die erste Stelle als oberste Bedingung (der das andre untergeordnet | ||||||
02 | ist) einräumen sollte. Es ist billig, es ist vernünftig, anzunehmen, | ||||||
03 | daß nicht bloß "Weise nach dem Fleisch", Gelehrte oder Vernünftler, | ||||||
04 | zu dieser Aufklärung in Ansehung ihres wahren Heils berufen sein werden | ||||||
05 | - denn dieses Glaubens soll das ganze menschliche Geschlecht fähig sein; | ||||||
06 | - sondern "was thöricht ist vor der Welt", selbst der Unwissende oder an | ||||||
07 | Begriffen Eingeschränkteste muß auf eine solche Belehrung und innere | ||||||
08 | Überzeugung Anspruch machen können. Nun scheint's zwar, daß ein Geschichtsglaube, | ||||||
09 | vornehmlich wenn die Begriffe, deren er bedarf, um die | ||||||
10 | Nachrichten zu fassen, ganz anthropologisch und der Sinnlichkeit sehr anpassend | ||||||
11 | sind, gerade von dieser Art sei. Denn was ist leichter, als eine solche | ||||||
12 | sinnlich gemachte und einfältige Erzählung aufzufassen und einander mitzutheilen, | ||||||
13 | oder von Geheimnissen die Worte nachzusprechen, mit denen es | ||||||
14 | gar nicht nöthig ist, einen Sinn zu verbinden; wie leicht findet dergleichen, | ||||||
15 | vornehmlich bei einem großen verheißenen Interesse, allgemeinen Eingang, | ||||||
16 | und wie tief wurzelt ein Glaube an die Wahrheit einer solchen Erzählung, | ||||||
17 | die sich überdem auf eine von langer Zeit her für authentisch anerkannte | ||||||
18 | Urkunde gründet, und so ist ein solcher Glaube freilich auch den gemeinsten | ||||||
19 | menschlichen Fähigkeiten angemessen. Allein obzwar die Kundmachung | ||||||
20 | einer solchen Begebenheit sowohl, als auch der Glaube an | ||||||
21 | darauf gegründete Verhaltungsregeln nicht gerade oder vorzüglich für | ||||||
22 | Gelehrte oder Weltweise gegeben sein darf: so sind diese doch auch davon | ||||||
23 | nicht ausgeschlossen, und da finden sich nun so viel Bedenklichkeiten, theils | ||||||
24 | in Ansehung ihrer Wahrheit, theils in Ansehung des Sinnes, darin ihr | ||||||
25 | Vortrag genommen werden soll, daß einen solchen Glauben, der so vielen | ||||||
26 | (selbst aufrichtig gemeinten) Streitigkeiten unterworfen ist, für die oberste | ||||||
27 | Bedingung eines allgemeinen und allein seligmachenden Glaubens anzunehmen | ||||||
28 | das Widersinnischste ist, was man denken kann. - Nun giebt es | ||||||
29 | aber ein praktisches Erkenntniß, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft | ||||||
30 | beruht und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten | ||||||
31 | Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben | ||||||
32 | wäre: ein Gesetz, was man nur nennen darf, um sich über sein Ansehen | ||||||
33 | mit jedem sofort einzuverstehen, und welches in jedermanns Bewußtsein | ||||||
34 | unbedingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; | ||||||
35 | und was noch mehr ist, dieses Erkenntniß führt entweder schon für sich | ||||||
36 | allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens allein seinen | ||||||
37 | Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers, mithin leitet es zu einem | ||||||
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