Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 076 |
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| 01 | unsern Thaten ermessen), so daß der Ankläger in uns eher noch auf ein | ||||||
| 02 | Verdammungsurtheil antragen würde. Es ist also immer nur ein Urtheilsspruch | ||||||
| 03 | aus Gnade, obgleich (als auf Genugthuung gegründet, die für | ||||||
| 04 | uns nur in der Idee der gebesserten Gesinnung liegt, die aber Gott allein | ||||||
| 05 | kennt) der ewigen Gerechtigkeit völlig gemäß, wenn wir um jenes Guten | ||||||
| 06 | im Glauben willen aller Verantwortung entschlagen werden. | ||||||
| 07 | Es kann nun noch gefragt werden, ob diese Deduction der Idee einer | ||||||
| 08 | Rechtfertigung des zwar verschuldeten, aber doch zu einer Gott wohlgefälligen | ||||||
| 09 | Gesinnung übergegangenen Menschen irgend einen praktischen | ||||||
| 10 | Gebrauch habe, und welcher es sein könne. Es ist nicht abzusehen, welcher | ||||||
| 11 | positive Gebrauch davon für die Religion und den Lebenswandel zu | ||||||
| 12 | machen sei, da in jener Untersuchung die Bedingung zum Grunde liegt, | ||||||
| 13 | daß der, den sie angeht, in der erforderlichen guten Gesinnung schon wirklich | ||||||
| 14 | sei, auf deren Behuf (Entwickelung und Beförderung) aller praktische | ||||||
| 15 | Gebrauch moralischer Begriffe eigentlich abzweckt; denn was den Trost betrifft, | ||||||
| 16 | so führt ihn eine solche Gesinnung für den, der sich ihrer bewußt ist, | ||||||
| 17 | (als Trost und Hoffnung, nicht als Gewißheit) schon bei sich. Sie ist also | ||||||
| 18 | in so fern nur die Beantwortung einer speculativen Frage, die aber darum | ||||||
| 19 | nicht mit Stillschweigen übergangen werden kann, weil sonst der Vernunft | ||||||
| 20 | vorgeworfen werden könnte, sie sei schlechterdings unvermögend, die Hoffnung | ||||||
| 21 | auf die Lossprechung des Menschen von seiner Schuld mit der göttlichen | ||||||
| 22 | Gerechtigkeit zu vereinigen; ein Vorwurf, der ihr in mancherlei, vornehmlich | ||||||
| 23 | in moralischer Rücksicht nachtheilig sein könnte. Allein der | ||||||
| 24 | negative Nutzen, der daraus für Religion und Sitten zum Behuf eines | ||||||
| 25 | jeden Menschen gezogen werden kann, erstreckt sich sehr weit. Denn man | ||||||
| 26 | sieht aus der gedachten Deduction: daß nur unter der Voraussetzung der | ||||||
| 27 | gänzlichen Herzensänderung sich für den mit Schuld belasteten Menschen | ||||||
| 28 | vor der himmlischen Gerechtigkeit Lossprechung denken lasse, mithin alle | ||||||
| 29 | Expiationen, sie mögen von der büßenden oder feierlichen Art sein, alle | ||||||
| 30 | Anrufungen und Hochpreisungen (selbst die des stellvertretenden Ideals | ||||||
| 31 | des Sohnes Gottes) den Mangel der erstern nicht ersetzen, oder, wenn diese | ||||||
| 32 | da ist, ihre Gültigkeit vor jenem Gerichte nicht im mindesten vermehren | ||||||
| 33 | können; denn dieses Ideal muß in unserer Gesinnung aufgenommen sein, | ||||||
| 34 | um an Stelle der That zu gelten. Ein anderes enthält die Frage: was sich | ||||||
| 35 | der Mensch von seinem geführten Lebenswandel am Ende desselben zu | ||||||
| 36 | versprechen, oder was er zu fürchten habe. Hier muß er allererst seinen | ||||||
| 37 | Charakter wenigstens einigermaßen kennen, also, wenn er gleich glaubt, | ||||||
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