Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 073 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Erscheinungen derselben, den vom Gesetz abweichenden oder damit zusammenstimmenden | ||||||
02 | Handlungen, gezogen worden. Nun wird hier aber | ||||||
03 | in dem Menschen eine über das in ihm vorher mächtige böse Princip die | ||||||
04 | Oberhand habende gute Gesinnung vorausgesetzt, und es ist nun die Frage: | ||||||
05 | ob die moralische Folge der ersteren, die Strafe, (mit andern Worten: die | ||||||
06 | Wirkung des Mißfallens Gottes an dem Subject) auch auf seinen Zustand | ||||||
07 | in der gebesserten Gesinnung könne gezogen werden, in der er schon ein | ||||||
08 | Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens ist. Da hier die Frage nicht ist: | ||||||
09 | ob auch vor der Sinnesänderung die über ihn verhängte Strafe mit der | ||||||
10 | göttlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen würde (als woran niemand | ||||||
11 | zweifelt), so soll sie (in dieser Untersuchung) nicht als vor der Besserung | ||||||
12 | an ihm vollzogen gedacht werden. Sie kann aber auch nicht als nach | ||||||
13 | derselben, da der Mensch schon im neuen Leben wandelt und moralisch | ||||||
14 | ein anderer Mensch ist, dieser seiner neuen Qualität (eines Gott wohlgefälligen | ||||||
15 | Menschen) angemessen angenommen werden, gleichwohl aber mu | ||||||
16 | der höchsten Gerechtigkeit, vor der ein Strafbarer nie straflos sein kann, | ||||||
17 | ein Genüge geschehen. Da sie also weder vor noch nach der Sinnesänderung | ||||||
18 | der göttlichen Weisheit gemäß und doch nothwendig ist: so würde | ||||||
19 | sie als in dem Zustande der Sinnesänderung selbst ihr angemessen und | ||||||
20 | ausgeübt gedacht werden müssen. Wir müssen also sehen, ob in diesem | ||||||
21 | letzteren schon durch den Begriff einer moralischen Sinnesänderung diejenigen | ||||||
22 | Übel als enthalten gedacht werden können, die der neue, gutgesinnte | ||||||
23 | Mensch als von ihm (in andrer Beziehung) verschuldete und als solche | ||||||
24 | Strafen ansehen kann,*) wodurch der göttlichen Gerechtigkeit ein Genüge | ||||||
*) Die Hypothese, alle Übel in der Welt im Allgemeinen als Strafen für begangene Übertretungen anzusehen, kann nicht sowohl als zum Behuf einer Theodicee, oder als Erfindung zum Behuf der Priesterreligion (des Cultus) ersonnen angenommen werden (denn sie ist zu gemein, um so künstlich ausgedacht zu sein), sondern liegt vermuthlich der menschlichen Vernunft sehr nahe, welche geneigt ist, den Lauf der Natur an die Gesetze der Moralität anzuknüpfen, und die daraus den Gedanken sehr natürlich hervorbringt: daß wir zuvor bessere Menschen zu werden suchen sollen, ehe wir verlangen können, von den Übeln des Lebens befreit zu werden, oder sie durch überwiegendes Wohl zu vergüten. - Darum wird der erste Mensch (in der heiligen Schrift) als zur Arbeit, wenn er essen wollte, sein Weib, daß sie mit Schmerzen Kinder gebären sollte, und beide als zum Sterben um ihrer Übertretung Willen verdammt vorgestellt, obgleich nicht abzusehen ist, wie, wenn diese auch nicht begangen worden, thierische, mit solchen Gliedmaßen versehene Geschöpfe sich einer andern Bestimmung hätten gegenwärtigen können. Bei den Hindu's sind die Menschen nichts anders, als in [Seitenumbruch] thierische Körper zur Strafe für ehemalige Verbrechen eingesperrte Geister (Dewas genannt), und selbst ein Philosoph (Malebranche) wollte den vernunftlosen Thieren lieber gar keine Seelen und hiermit auch keine Gefühle beilegen, als einräumen, daß die Pferde so viel Plagen ausstehen müßten, "ohne doch vom verbotenen Heu gefressen zu haben". | |||||||
[ Seite 072 ] [ Seite 074 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |