Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 072

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 doch in der Aburtheilung seines ganzen Lebenswandels vor einer göttlichen      
  02 Gerechtigkeit als verwerflich vorstellt, ist folgende. - Wie es      
  03 auch mit der Annehmung einer guten Gesinnung an ihm zugegangen sein      
  04 mag und sogar, wie beharrlich er auch darin in einem ihr gemäßen Lebenswandel      
  05 fortfahre, so fing er doch vom Bösen an, und diese Verschuldung      
  06 ist ihm nie auszulöschen möglich. Daß er nach seiner Herzensänderung      
  07 keine neue Schulden mehr macht, kann er nicht dafür ansehen,      
  08 als ob er dadurch die alten bezahlt habe. Auch kann er in einem fernerhin      
  09 geführten guten Lebenswandel keinen Überschuß über das, was er jedesmal      
  10 an sich zu thun schuldig ist, herausbringen; denn es ist jederzeit seine      
  11 Pflicht, alles Gute zu thun, was in seinem Vermögen steht. - Diese ursprüngliche,      
  12 oder überhaupt vor jedem Guten, was er immer thun mag,      
  13 vorhergehende Schuld, die auch dasjenige ist, was, und nichts mehr, wir      
  14 unter dem radicalen Bösen verstanden (S. das erste Stück), kann aber      
  15 auch, so viel wir nach unserem Vernunftrecht einsehen, nicht von einem      
  16 andern getilgt werden; denn sie ist keine transmissible Verbindlichkeit,      
  17 die etwa wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob      
  18 der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt) auf einen andern      
  19 übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine      
  20 Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch      
  21 noch so großmüthig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen      
  22 kann. - Da nun das Sittlich=Böse (Übertretung des moralischen Gesetzes      
  23 als göttlichen Gebotes, Sünde genannt) nicht sowohl wegen der Unendlichkeit      
  24 des höchsten Gesetzgebers, dessen Autorität dadurch verletzt      
  25 worden (von welchem überschwenglichen Verhältnisse des Menschen zum      
  26 höchsten Wesen wir nichts verstehen), sondern als ein Böses in der Gesinnung      
  27 und den Maximen überhaupt (wie allgemeine Grundsätze      
  28 vergleichungsweise gegen einzelne Übertretungen) eine Unendlichkeit von      
  29 Verletzungen des Gesetzes, mithin der Schuld bei sich führt (welches vor      
  30 einem menschlichen Gerichtshofe, der nur das einzelne Verbrechen, mithin      
  31 nur die That und darauf bezogene, nicht aber die allgemeine Gesinnung      
  32 in Betrachtung zieht, anders ist), so würde jeder Mensch sich einer unendlichen      
  33 Strafe und Verstoßung aus dem Reiche Gottes zu gewärtigen      
  34 haben.      
           
  35 Die Auflösung dieser Schwierigkeit beruht auf folgendem: der      
  36 Richterausspruch eines Herzenskündigers muß als ein solcher gedacht werden,      
  37 der aus der allgemeinen Gesinnung des Angeklagten, nicht aus den      
           
     

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