Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 047 |
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| 01 | dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern. Der zur Fertigkeit | ||||||
| 02 | gewordene feste Vorsatz in Befolgung seiner Pflicht heißt auch Tugend | ||||||
| 03 | der Legalität nach als ihrem empirischen Charakter ( virtus | ||||||
| 04 | phaenomenon ). Sie hat also die beharrliche Maxime gesetzmäßiger | ||||||
| 05 | Handlungen; die Triebfeder, deren die Willkür hiezu bedarf, mag man | ||||||
| 06 | nehmen, woher man wolle. Daher wird Tugend in diesem Sinne nach | ||||||
| 07 | und nach erworben und heißt Einigen eine lange Gewohnheit (in Beobachtung | ||||||
| 08 | des Gesetzes), durch die der Mensch vom Hange zum Laster durch | ||||||
| 09 | allmählige Reformen seines Verhaltens und Befestigung seiner Maximen | ||||||
| 10 | in einen entgegengesetzten Hang übergekommen ist. Dazu ist nun | ||||||
| 11 | nicht eben eine Herzensänderung nöthig, sondern nur eine Änderung | ||||||
| 12 | der Sitten. Der Mensch findet sich tugendhaft, wenn er sich in Maximen, | ||||||
| 13 | seine Pflicht zu beobachten, befestigt fühlt: obgleich nicht aus dem | ||||||
| 14 | obersten Grunde aller Maximen, nämlich aus Pflicht; sondern der Unmäßige | ||||||
| 15 | z. B. kehrt zur Mäßigkeit um der Gesundheit, der Lügenhafte zur | ||||||
| 16 | Wahrheit um der Ehre, der Ungerechte zur bürgerlichen Ehrlichkeit um | ||||||
| 17 | der Ruhe oder des Erwerbs willen u. s. w. zurück; alle nach dem gepriesenen | ||||||
| 18 | Princip der Glückseligkeit. Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, | ||||||
| 19 | sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft | ||||||
| 20 | nach dem intelligiblen Charakter ( virtus Noumenon ), werde, | ||||||
| 21 | welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder | ||||||
| 22 | weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht | ||||||
| 23 | durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter | ||||||
| 24 | bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im | ||||||
| 25 | Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt | ||||||
| 26 | werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt | ||||||
| 27 | gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen | ||||||
| 28 | mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden. | ||||||
| 29 | Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie | ||||||
| 30 | ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande | ||||||
| 31 | bringe und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die | ||||||
| 32 | Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns thunlich ist. | ||||||
| 33 | Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die | ||||||
| 34 | Denkungsart, die allmählige Reform aber für die Sinnesart (welche jener | ||||||
| 35 | Hindernisse entgegenstellt) nothwendig und daher auch dem Menschen | ||||||
| 36 | möglich sein muß. Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, | ||||||
| 37 | wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare | ||||||
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