Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 405

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
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§ 77.

     
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Von der Eigenthümlichkeit des menschlichen Verstandes,

     
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wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich wird.

     
           
  04 Wir haben in der Anmerkung Eigenthümlichkeiten unseres (selbst      
  05 des oberen) Erkenntnißvermögens, welche wir leichtlich als objective      
  06 Prädicate auf die Sachen selbst überzutragen verleitet werden, angeführt;      
  07 aber sie betreffen Ideen, denen angemessen kein Gegenstand in der Erfahrung      
  08 gegeben werden kann, und die alsdann nur zu regulativen Principien      
  09 in Verfolgung der letzteren dienen konnten. Mit dem Begriffe      
  10 eines Naturzwecks verhält es sich zwar eben so, was die Ursache der      
  11 Möglichkeit eines solchen Prädicats betrifft, die nur in der Idee liegen      
  12 kann; aber die ihr gemäße Folge (das Product selbst) ist doch in der      
  13 Natur gegeben, und der Begriff einer Causalität der letzteren, als eines      
  14 nach Zwecken handelnden Wesens, scheint die Idee eines Naturzwecks zu      
  15 einem constitutiven Princip desselben zu machen: und darin hat sie etwas      
  16 von allen andern Ideen Unterscheidendes.      
           
  17 Dieses Unterscheidende besteht aber darin: daß gedachte Idee nicht      
  18 ein Vernunftprincip für den Verstand, sondern für die Urtheilskraft, mithin      
  19 lediglich die Anwendung eines Verstandes überhaupt auf mögliche      
  20 Gegenstände der Erfahrung ist; und zwar da, wo das Urtheil nicht bestimmend,      
  21 sondern bloß reflectirend sein kann, mithin der Gegenstand      
  22 zwar in der Erfahrung gegeben, aber darüber der Idee gemäß gar nicht      
  23 einmal bestimmt (geschweige völlig angemessen) geurtheilt, sondern      
  24 nur über ihn reflectirt werden kann.      
           
  25 Es betrifft also eine Eigenthümlichkeit unseres (menschlichen) Verstandes      
  26 in Ansehung der Urtheilskraft in der Reflexion derselben über      
  27 Dinge der Natur. Wenn das aber ist, so muß hier die Idee von einem      
  28 andern möglichen Verstande, als dem menschlichen zum Grunde liegen      
  29 (so wie wir in der Kritik der r. V. eine andere mögliche Anschauung in      
  30 Gedanken haben mußten, wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich      
  31 die, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten, gehalten      
  32 werden sollte), damit man sagen könne: gewisse Naturproducte müssen      
  33 nach der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes von uns ihrer      
  34 Möglichkeit nach als absichtlich und als Zwecke erzeugt betrachtet      
  35 werden, ohne doch darum zu verlangen, daß es wirklich eine besondere      
           
     

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