Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 307

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst mu      
  02 als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist.      
  03 Als Natur aber erscheint ein Product der Kunst dadurch, daß zwar alle      
  04 Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das      
  05 Product das werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne      
  06 Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur      
  07 zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt und seinen      
  08 Gemüthskräften Fesseln angelegt habe.      
           
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§ 46.

     
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Schöne Kunst ist Kunst des Genies.

     
           
  11 Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel      
  12 giebt. Da das Talent als angebornes productives Vermögen des Künstlers      
  13 selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken:      
  14 Genie ist die angeborne Gemüthsanlage ( ingenium ), durch welche die      
  15 Natur der Kunst die Regel giebt.      
           
  16 Was es auch mit dieser Definition für eine Bewandtniß habe, und      
  17 ob sie bloß willkürlich, oder dem Begriffe, welchen man mit dem Worte      
  18 Genie zu verbinden gewohnt ist, angemessen sei, oder nicht (welches in dem      
  19 folgenden § erörtert werden soll): so kann man doch schon zum Voraus      
  20 beweisen, daß nach der hier angenommenen Bedeutung des Worts schöne      
  21 Künste nothwendig als Künste des Genies betrachtet werden müssen.      
           
  22 Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung      
  23 allererst ein Product, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt      
  24 wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urtheil      
  25 über die Schönheit ihres Products von irgend einer Regel abgeleitet      
  26 werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe, mithin einen      
  27 Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege. Also kann die      
  28 schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Product      
  29 zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel      
  30 ein Product niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjecte      
  31 (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel      
  32 geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Product des Genies möglich.      
           
  33 Man sieht hieraus, daß Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu      
  34 sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage      
  35 zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann;      
           
     

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