Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 277

     
           
 

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  01 Man kann mit der jetzt durchgeführten transscendentalen Exposition      
  02 der ästhetischen Urtheile nun auch die physiologische, wie sie ein Burke      
  03 und viele scharfsinnige Männer unter uns bearbeitet haben, vergleichen,      
  04 um zu sehen, wohin eine bloß empirische Exposition des Erhabenen und      
  05 Schönen führe. Burke*), der in dieser Art der Behandlung als der vornehmste      
  06 Verfasser genannt zu werden verdient, bringt auf diesem Wege      
  07 (S. 223 seines Werks) heraus: "daß das Gefühl des Erhabenen sich auf      
  08 dem Triebe zur Selbsterhaltung und auf Furcht, d. i. einem Schmerze,      
  09 Gründe, der, weil er nicht bis zur wirklichen Zerrüttung der körperlichen      
  10 Theile geht, Bewegungen hervorbringt, die, da sie die feineren oder gröberen      
  11 Gefäße von gefährlichen und beschwerlichen Verstopfungen reinigen,      
  12 im Stande sind, angenehme Empfindungen zu erregen, zwar nicht Lust,      
  13 sondern eine Art von wohlgefälligem Schauer, eine gewisse Ruhe, die mit      
  14 Schrecken vermischt ist." Das Schöne, welches er auf Liebe gründet (wovon      
  15 er doch die Begierde abgesondert wissen will), führt er (S. 251 - 252)      
  16 "auf die Nachlassung, Losspannung und Erschlaffung der Fibern des Körpers,      
  17 mithin eine Erweichung, Auflösung, Ermattung, ein Hinsinken, Hinsterben,      
  18 Wegschmelzen vor Vergnügen hinaus". Und nun bestätigt er      
  19 diese Erklärungsart nicht allein durch Fälle, in denen die Einbildungskraft      
  20 in Verbindung mit dem Verstande, sondern sogar mit Sinnesempfindung      
  21 in uns das Gefühl des Schönen sowohl als des Erhabenen erregen      
  22 könne. - Als psychologische Bemerkungen sind diese Zergliederungen      
  23 der Phänomene unseres Gemüths überaus schön und geben reichen Stoff      
  24 zu den beliebtesten Nachforschungen der empirischen Anthropologie. Es      
  25 ist auch nicht zu läugnen, daß alle Vorstellungen in uns, sie mögen objectiv      
  26 bloß sinnlich, oder ganz intellectuell sein, doch subjectiv mit Vergnügen      
  27 oder Schmerz, so unmerklich beides auch sein mag, verbunden werden      
  28 können (weil sie insgesammt das Gefühl des Lebens afficiren, und keine      
  29 derselben, sofern als sie Modification des Subjects ist, indifferent sein      
  30 kann); sogar daß, wie Epikur behauptete, immer Vergnügen und      
  31 Schmerz zuletzt doch körperlich sei, es mag nun von der Einbildung,      
  32 oder gar von Verstandesvorstellungen anfangen: weil das Leben ohne das      
           
    *)Nach der deutschen Übersetzung seiner Schrift: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Begriffe vom Schönen und Erhabenen. Riga, bei Hartknoch 1773.      
           
     

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