Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 252

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je      
  02 weiter die Auffassung fortrückt, und gelangt bald zu ihrem Maximum,      
  03 nämlich dem ästhetisch=größten Grundmaße der Größenschätzung. Denn      
  04 wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daß die zuerst aufgefaßten Theilvorstellungen      
  05 der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen      
  06 anheben, indeß daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt: so verliert      
  07 sie auf einer Seite eben so viel, als sie auf der andern gewinnt, und      
  08 in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen      
  09 kann.      
           
  10 Daraus läßt sich erklären, was Savary in seinen Nachrichten von      
  11 Ägypten anmerkt: daß man den Pyramiden nicht sehr nahe kommen, eben      
  12 so wenig als zu weit davon entfernt sein müsse, um die ganze Rührung      
  13 von ihrer Größe zu bekommen. Denn ist das letztere, so sind die Theile,      
  14 die aufgefaßt werden, (die Steine derselben übereinander) nur dunkel      
  15 vorgestellt, und ihre Vorstellung thut keine Wirkung auf das ästhetische      
  16 Urtheil des Subjects. Ist aber das erstere, so bedarf das Auge einige      
  17 Zeit, um die Auffassung von der Grundfläche bis zur Spitze zu vollenden;      
  18 in dieser aber erlöschen immer zum Theil die ersteren, ehe die Einbildungskraft      
  19 die letzteren aufgenommen hat, und die Zusammenfassung ist nie      
  20 vollständig. - Eben dasselbe kann auch hinreichen, die Bestürzung oder      
  21 Art von Verlegenheit, die, wie man erzählt, den Zuschauer in der St. Peterskirche      
  22 in Rom beim ersten Eintritt anwandelt, zu erklären. Denn es      
  23 ist hier ein Gefühl der Unangemessenheit seiner Einbildungskraft für die      
  24 Idee eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft ihr      
  25 Maximum erreicht und bei der Bestrebung es zu erweitern in sich selbst      
  26 zurück sinkt, dadurch aber in ein rührendes Wohlgefallen versetzt wird.      
           
  27 Ich will jetzt noch nichts von dem Grunde dieses Wohlgefallens anführen,      
  28 welches mit einer Vorstellung, wovon man es am wenigsten erwarten      
  29 sollte, die nämlich uns die Unangemessenheit, folglich auch subjective      
  30 Unzweckmäßigkeit der Vorstellung für die Urtheilskraft in der Größenschätzung      
  31 merken läßt, verbunden ist; sondern bemerke nur, daß, wenn das      
  32 ästhetische Urtheil rein (mit keinem teleologischen als Vernunfturtheile      
  33 vermischt) und daran ein der Kritik der ästhetischen Urtheilskraft      
  34 völlig anpassendes Beispiel gegeben werden soll, man nicht das Erhabene      
  35 an Kunstproducten (z. B. Gebäuden, Säulen u. s. w.), wo ein      
  36 menschlicher Zweck die Form sowohl als die Größe bestimmt, noch an      
  37 Naturdingen, deren Begriff schon einen bestimmten Zweck bei sich      
           
     

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