Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 163 |
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01 | die sich nicht so unmittelbar in der gemeinen Erfahrung darstellen lassen. | ||||||
02 | Nachdem aber, wiewohl spät, die Maxime in Schwang gekommen war, | ||||||
03 | alle Schritte vorher wohl zu überlegen, die die Vernunft zu thun vorhat, | ||||||
04 | und sie nicht anders als im Gleise einer vorher wohl überdachten Methode | ||||||
05 | ihren Gang machen zu lassen, so bekam die Beurtheilung des Weltgebäudes | ||||||
06 | eine ganz andere Richtung und mit dieser zugleich einen ohne Vergleichung | ||||||
07 | glücklichern Ausgang. Der Fall eines Steins, die Bewegung | ||||||
08 | einer Schleuder, in ihre Elemente und dabei sich äußernde Kräfte aufgelöst | ||||||
09 | und mathematisch bearbeitet, brachte zuletzt diejenige klare und für | ||||||
10 | alle Zukunft unveränderliche Einsicht in den Weltbau hervor, die bei fortgehender | ||||||
11 | Beobachtung hoffen kann, sich immer nur zu erweitern, niemals | ||||||
12 | aber zurückgehen zu müssen fürchten darf. | ||||||
13 | Diesen Weg nun in Behandlung der moralischen Anlagen unserer | ||||||
14 | Natur gleichfalls einzuschlagen, kann uns jenes Beispiel anräthig sein und | ||||||
15 | Hoffnung zu ähnlichem guten Erfolg geben. Wir haben doch die Beispiele | ||||||
16 | der moralisch urtheilenden Vernunft bei Hand. Diese nun in ihre Elementarbegriffe | ||||||
17 | zu zergliedern, in Ermangelung der Mathematik aber | ||||||
18 | ein der Chemie ähnliches Verfahren der Scheidung des Empirischen | ||||||
19 | vom Rationalen, das sich in ihnen vorfinden möchte, in wiederholten Versuchen | ||||||
20 | am gemeinen Menschenverstande vorzunehmen, kann uns Beides | ||||||
21 | rein und, was jedes für sich allein leisten könne, mit Gewißheit kennbar | ||||||
22 | machen und so theils der Verirrung einer noch rohen, ungeübten Beurtheilung, | ||||||
23 | theils (welches weit nöthiger ist) den Genieschwüngen vorbeugen, | ||||||
24 | durch welche, wie es von Adepten des Steins der Weisen zu geschehen | ||||||
25 | pflegt, ohne alle methodische Nachforschung und Kenntniß der | ||||||
26 | Natur geträumte Schätze versprochen und wahre verschleudert werden. | ||||||
27 | Mit einem Worte: Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) | ||||||
28 | ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt, wenn unter dieser | ||||||
29 | nicht blos verstanden wird, was man thun, sondern was Lehrern zur | ||||||
30 | Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen | ||||||
31 | soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sicheren; | ||||||
32 | eine Wissenschaft, deren Aufbewahrerin jederzeit die Philosophie bleiben | ||||||
33 | muß, an deren subtiler Untersuchung das Publicum keinen Antheil, wohl | ||||||
34 | aber an den Lehren zu nehmen hat, die ihm nach einer solchen Bearbeitung | ||||||
35 | allererst recht hell einleuchten können. | ||||||
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