Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 160

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 derselben, mithin an sittlich guten Handlungen nach und nach hervorbringen      
  02 müsse. Denn wir gewinnen endlich das lieb, dessen Betrachtung      
  03 uns den erweiterten Gebrauch unserer Erkenntnißkräfte empfinden      
  04 läßt, welchen vornehmlich dasjenige befördert, worin wir moralische      
  05 Richtigkeit antreffen: weil sich die Vernunft in einer solchen Ordnung      
  06 der Dinge mit ihrem Vermögen, a priori nach Principien zu bestimmen,      
  07 was geschehen soll, allein gut finden kann. Gewinnt doch ein Naturbeobachter      
  08 Gegenstände, die seinen Sinnen anfangs anstößig sind, endlich lieb,      
  09 wenn er die große Zweckmäßigkeit ihrer Organisation daran entdeckt und      
  10 so seine Vernunft an ihrer Betrachtung weidet, und Leibniz brachte ein      
  11 Insect, welches er durchs Mikroskop sorgfältig betrachtet hatte, schonend      
  12 wiederum auf sein Blatt zurück, weil er sich durch seinen Anblick belehrt      
  13 gefunden und von ihm gleichsam eine Wohlthat genossen hatte.      
           
  14 Aber diese Beschäftigung der Urtheilskraft, welche uns unsere eigene      
  15 Erkenntnißkräfte fühlen laßt, ist noch nicht das Interesse an den Handlungen      
  16 und ihrer Moralität selbst. Sie macht blos, daß man sich gerne      
  17 mit einer solchen Beurtheilung unterhält, und giebt der Tugend oder der      
  18 Denkungsart nach moralischen Gesetzen eine Form der Schönheit, die bewundert,      
  19 darum aber noch nicht gesucht wird ( laudatur et alget ); wie      
  20 alles, dessen Betrachtung subjectiv ein Bewußtsein der Harmonie unserer      
  21 Vorstellungskräfte bewirkt, und wobei wir unser ganzes Erkenntnißvermögen      
  22 (Verstand und Einbildungskraft) gestärkt fühlen, ein Wohlgefallen      
  23 hervorbringt, daß sich auch andern mittheilen läßt, wobei gleichwohl die      
  24 Existenz des Objects uns gleichgültig bleibt, indem es nur als die Veranlassung      
  25 angesehen wird, der über die Thierheit erhabenen Anlage der      
  26 Talente in uns inne zu werden. Nun tritt aber die zweite Übung ihr      
  27 Geschäft an, nämlich in der lebendigen Darstellung der moralischen Gesinnung      
  28 an Beispielen die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen,      
  29 vorerst nur als negativer Vollkommenheit desselben, so fern in einer Handlung      
  30 aus Pflicht gar keine Triebfedern der Neigungen als Bestimmungsgründe      
  31 auf ihn einfließen; wodurch der Lehrling doch auf das Bewußtsein      
  32 seiner Freiheit aufmerksam erhalten wird, und, obgleich diese Entsagung      
  33 eine anfängliche Empfindung von Schmerz erregt, dennoch dadurch,      
  34 daß sie jenen Lehrling dem Zwange selbst wahrer Bedürfnisse entzieht,      
  35 ihm zugleich eine Befreiung von der mannigfaltigen Unzufriedenheit,      
  36 darin ihn alle diese Bedürfnisse verflechten, angekündigt und das Gemüth      
  37 für die Empfindung der Zufriedenheit aus anderen Quellen empfänglich      
           
     

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