Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 147 |
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01 | ihre Befriedigung und, mit vernünftiger Überlegung verbunden, ihre | ||||||
02 | größtmögliche und daurende Befriedigung unter dem Namen der Glückseligkeit | ||||||
03 | verlangen; das moralische Gesetz würde nachher sprechen, um jene | ||||||
04 | in ihren geziemenden Schranken zu halten und sogar sie alle insgesammt | ||||||
05 | einem höheren, auf keine Neigung Rücksicht nehmenden Zwecke zu unterwerfen. | ||||||
06 | Aber statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit | ||||||
07 | den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch | ||||||
08 | allmählig moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und | ||||||
09 | Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen | ||||||
10 | liegen (denn was wir vollkommen beweisen können, gilt in Ansehung der | ||||||
11 | Gewißheit uns so viel, als wovon wir uns durch den Augenschein versichern). | ||||||
12 | Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene | ||||||
13 | gethan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen | ||||||
14 | geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der | ||||||
15 | Stachel der Thätigkeit hier aber sogleich bei Hand und äußerlich ist, die | ||||||
16 | Vernunft also sich nicht allererst empor arbeiten darf, um Kraft zum | ||||||
17 | Widerstande gegen Neigungen durch lebendige Vorstellung der Würde des | ||||||
18 | Gesetzes zu sammeln, so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen | ||||||
19 | aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, | ||||||
20 | ein moralischer Werth der Handlungen aber, worauf doch allein | ||||||
21 | der Werth der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten | ||||||
22 | Weisheit ankommt, würde gar nicht existiren. Das Verhalten der Menschen, | ||||||
23 | so lange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen | ||||||
24 | bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel | ||||||
25 | alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen | ||||||
26 | sein würde. Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir | ||||||
27 | mit aller Anstrengung unserer Vernunft nur eine sehr dunkele und zweideutige | ||||||
28 | Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein | ||||||
29 | und seine Herrlichkeit nur muthmaßen, nicht erblicken, oder klar beweisen | ||||||
30 | läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit | ||||||
31 | zu verheißen, oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, | ||||||
32 | übrigens aber, wenn diese Achtung thätig und herrschend geworden, allererst | ||||||
33 | alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, | ||||||
34 | aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt: so kann wahrhafte sittliche, | ||||||
35 | dem Gesetze unmittelbar geweihte Gesinnung stattfinden und das vernünftige | ||||||
36 | Geschöpf des Antheils am höchsten Gute würdig werden, das | ||||||
37 | dem moralischen Werthe seiner Person und nicht blos seinen Handlungen | ||||||
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