Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 112 |
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01 | verschiedenen Benennungen erkünstelt, und dieses trifft gemeiniglich solche | ||||||
02 | Fälle, wo die Vereinigung ungleichartiger Gründe so tief oder hoch liegt, | ||||||
03 | oder eine so gänzliche Umänderung der sonst im philosophischen System | ||||||
04 | angenommenen Lehren erfordern würde, daß man Scheu trägt sich in den | ||||||
05 | realen Unterschied tief einzulassen und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen | ||||||
06 | Formalien behandelt. | ||||||
07 | Indem beide Schulen Einerleiheit der praktischen Principien der Tugend | ||||||
08 | und Glückseligkeit zu ergrübeln suchten, so waren sie darum nicht | ||||||
09 | unter sich einhellig, wie sie diese Identität herauszwingen wollten, sondern | ||||||
10 | schieden sich in unendliche Weiten von einander, indem die eine ihr Princip | ||||||
11 | auf der ästhetischen, die andere auf der logischen Seite, jene im Bewußtsein | ||||||
12 | des sinnlichen Bedürfnisses, die andere in der Unabhängigkeit | ||||||
13 | der praktischen Vernunft von allen sinnlichen Bestimmungsgründen setzte. | ||||||
14 | Der Begriff der Tugend lag nach dem Epikureer schon in der Maxime | ||||||
15 | seine eigene Glückseligkeit zu befördern; das Gefühl der Glückseligkeit war | ||||||
16 | dagegen nach dem Stoiker schon im Bewußtsein seiner Tugend enthalten. | ||||||
17 | Was aber in einem andern Begriffe enthalten ist, ist zwar mit einem | ||||||
18 | Theile des Enthaltenden, aber nicht mit dem Ganzen einerlei, und zwei | ||||||
19 | Ganze können überdem specifisch von einander unterschieden sein, ob sie | ||||||
20 | zwar aus eben demselben Stoffe bestehen, wenn nämlich die Theile in | ||||||
21 | beiden auf ganz verschiedene Art zu einem Ganzen verbunden werden. | ||||||
22 | Der Stoiker behauptete, Tugend sei das ganze höchste Gut und Glückseligkeit | ||||||
23 | nur das Bewußtsein des Besitzes derselben als zum Zustand des | ||||||
24 | Subjects gehörig. Der Epikureer behauptete, Glückseligkeit sei das ganze | ||||||
25 | höchste Gut und Tugend nur die Form der Maxime sich um sie zu bewerben, | ||||||
26 | nämlich im vernünftigen Gebrauche der Mittel zu derselben. | ||||||
27 | Nun ist aber aus der Analytik klar, daß die Maximen der Tugend | ||||||
28 | und die der eigenen Glückseligkeit in Ansehung ihres obersten praktischen | ||||||
29 | Princips ganz ungleichartig sind und, weit gefehlt, einhellig zu sein, ob | ||||||
30 | sie gleich zu einem höchsten Guten gehören, um das letztere möglich zu | ||||||
31 | machen, einander in demselben Subjecte gar sehr einschränken und Abbruch | ||||||
32 | thun. Also bleibt die Frage: wie ist das höchste Gut praktisch | ||||||
33 | möglich? Noch immer unerachtet aller bisherigen Coalitionsversuche | ||||||
34 | eine unaufgelösete Aufgabe, das aber, was sie zu einer schwer zu lösenden | ||||||
35 | Aufgabe macht, ist in der Analytik gegeben, nämlich daß Glückseligkeit | ||||||
36 | und Sittlichkeit zwei specifisch ganz verschiedene Elemente des | ||||||
37 | höchsten Guts sind, und ihre Verbindung also nicht analytisch erkannt | ||||||
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