Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 060 |
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01 | daß es zwei ganz verschiedene Beurtheilungen sind, ob wir bei einer Handlung | ||||||
02 | das Gute und Böse derselben, oder unser Wohl und Weh (Übel) | ||||||
03 | in Betrachtung ziehen. Hieraus folgt schon, daß obiger psychologischer | ||||||
04 | Satz wenigstens noch sehr ungewiß sei, wenn er so übersetzt wird: wir begehren | ||||||
05 | nichts, als in Rücksicht auf unser Wohl oder Weh; dagegen er, | ||||||
06 | wenn man ihn so giebt: wir wollen nach Anweisung der Vernunft nichts, | ||||||
07 | als nur so fern wir es für gut oder böse halten, ungezweifelt gewiß und | ||||||
08 | zugleich ganz klar ausgedrückt wird. | ||||||
09 | Das Wohl oder Übel bedeutet immer nur eine Beziehung auf unseren | ||||||
10 | Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, des Vergnügens | ||||||
11 | und Schmerzens, und wenn wir darum ein Object begehren oder | ||||||
12 | verabscheuen, so geschieht es nur, so fern es auf unsere Sinnlichkeit und | ||||||
13 | das Gefühl der Lust und Unlust, das es bewirkt, bezogen wird. Das | ||||||
14 | Gute oder Böse bedeutet aber jederzeit eine Beziehung auf den Willen, | ||||||
15 | so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem | ||||||
16 | Objecte zu machen; wie er denn durch das Object und dessen Vorstellung | ||||||
17 | niemals unmittelbar bestimmt wird, sondern ein Vermögen ist, sich eine | ||||||
18 | Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Object | ||||||
19 | wirklich werden kann) zu machen. Das Gute oder Böse wird also | ||||||
20 | eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person | ||||||
21 | bezogen, und sollte etwas schlechthin (und in aller Absicht und ohne | ||||||
22 | weitere Bedingung) gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so | ||||||
23 | würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die | ||||||
24 | handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache | ||||||
25 | sein, die so genannt werden könnte. | ||||||
26 | Man mochte also immer den Stoiker auslachen, der in den heftigsten | ||||||
27 | Gichtschmerzen ausrief: Schmerz, du magst mich noch so sehr foltern, ich | ||||||
28 | werde doch nie gestehen, daß du etwas Böses ( κακον , malum ) seist! er | ||||||
29 | hatte doch recht. Ein Übel war es, das fühlte er, und das verrieth sein | ||||||
30 | Geschrei; aber daß ihm dadurch ein Böses anhinge, hatte er gar nicht Ursache | ||||||
31 | einzuräumen; denn der Schmerz verringert den Werth seiner Person | ||||||
32 | nicht im mindesten, sondern nur den Werth seines Zustandes. Eine einzige | ||||||
33 | Lüge, deren er sich bewußt gewesen wäre, hätte seinen Muth niederschlagen | ||||||
34 | müssen; aber der Schmerz diente nur zur Veranlassung, ihn zu | ||||||
35 | erheben, wenn er sich bewußt war, daß er ihn durch keine unrechte Handlung | ||||||
36 | verschuldet und sich dadurch strafwürdig gemacht habe. | ||||||
37 | Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünftigen Menschen Urtheil | ||||||
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