Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 008

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 einsehen, daß sie nothwendig rational verfahren müssen. Um deswillen      
  02 ersuche ich den Leser, das, was zum Schlusse der Analytik über      
  03 diesen Begriff gesagt wird, nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen.      
           
  04 Ob ein solches System, als hier von der reinen praktischen Vernunft      
  05 aus der Kritik der letzteren entwickelt wird, viel oder wenig Mühe gemacht      
  06 habe, um vornehmlich den rechten Gesichtspunkt, aus dem das Ganze derselben      
  07 richtig vorgezeichnet werden kann, nicht zu verfehlen, muß ich den      
  08 Kennern einer dergleichen Arbeit zu beurtheilen überlassen. Es setzt zwar      
  09 die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten voraus, aber nur in      
  10 so fern, als diese mit dem Princip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft      
  11 macht und eine bestimmte Formel derselben angiebt und rechtfertigt*);      
  12 sonst besteht es durch sich selbst. Daß die Eintheilung aller praktischen      
  13 Wissenschaften zur Vollständigkeit nicht mit beigefügt worden, wie es die      
  14 Kritik der speculativen Vernunft leistete, dazu ist auch gültiger Grund in      
  15 der Beschaffenheit dieses praktischen Vernunftvermögens anzutreffen. Denn      
  16 die besondere Bestimmung der Pflichten als Menschenpflichten, um sie      
  17 einzutheilen, ist nur möglich, wenn vorher das Subject dieser Bestimmung      
  18 (der Mensch) nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist, obzwar nur so      
  19 viel als in Beziehung auf Pflicht überhaupt nöthig ist, erkannt worden;      
  20 diese aber gehört nicht in eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt,      
  21 die nur die Principien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen      
  22 vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur angeben      
  23 soll. Die Eintheilung gehört also hier zum System der Wissenschaft, nicht      
  24 zum System der Kritik.      
           
  25 Ich habe einem gewissen wahrheitliebenden und scharfen, dabei also      
  26 doch immer achtungswürdigen Recensenten jener Grundlegung zur      
  27 Metaphysik der Sitten auf seinen Einwurf, daß der Begriff des      
           
    *) Ein Recensent, der etwas zum Tadel dieser Schrift sagen wollte, hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darin kein neues Princip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden. Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrthume gewesen wäre. Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet, die das, was zu thun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflicht überhaupt thut, nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten.      
           
     

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