Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 561

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 auch jene Kreisdrehung nicht als äußerlich relativ vorgestellt werden soll, welches      
  02 so lautet, als ob diese Art der Bewegung für absolut anzunehmen sei.      
           
  03 Allein es ist wohl zu merken: daß hier von der wahren (wirklichen) Bewegung,      
  04 die doch nicht als solche erscheint, die also, wenn man sie blos nach empirischen      
  05 Verhältnissen zum Raume beurtheilen wollte, für Ruhe könnte gehalten      
  06 werden, d. i. von der wahren Bewegung zum Unterschiede vom Schein, nicht      
  07 aber von ihr als absoluten Bewegung im Gegensatze der relativen die Rede sei,      
  08 mithin die Kreisbewegung, ob sie zwar in der Erscheinung keine Stellen=Veränderung      
  09 d. i. keine phoronomische des Verhältnisses des Bewegten zum (empirischen)      
  10 Raume, zeigt, dennoch eine durch Erfahrung erweisliche continuirliche dynamische      
  11 Veränderung des Verhältnisses der Materie in ihrem Raume, z. B. eine beständige      
  12 Verminderung der Anziehung durch eine Bestrebung zu entfliehen, als      
  13 Wirkung der Kreisbewegung zeige und dadurch den Unterschied derselben vom      
  14 Schein sicher bezeichne. Man kann sich z. B. die Erde im unendlichen leeren Raum      
  15 als um die Achse gedreht vorstellen und diese Bewegung auch durch Erfahrung darthun,      
  16 obgleich weder das Verhältniß der Theile der Erde untereinander, noch zum      
  17 Raume außer ihr phoronomisch, d. i. in der Erscheinung, verändert wird. Denn in      
  18 Ansehung des ersteren als empirischen Raumes verändert nichts auf und in der      
  19 Erde seine Stelle, und in Beziehung des zweiten, der ganz leer ist, kann überall      
  20 kein äußeres verändertes Verhältniß, mithin auch keine Erscheinung einer Bewegung      
  21 stattfinden. Allein wenn ich mir eine zum Mittelpunkt der Erde hingehende      
  22 tiefe Höhle vorstelle und lasse einen Stein darin fallen, finde aber, daß, obzwar in      
  23 jeder Weite vom Mittelpunkte die Schwere immer nach diesem hingerichtet ist, der      
  24 fallende Stein dennoch von seiner senkrechten Richtung im Fallen continuirlich und      
  25 zwar von West nach Ost abweiche, so schließe ich, die Erde sei von Abend gegen      
  26 Morgen um die Achse gedreht. Oder wenn ich auch außerhalb den Stein von der      
  27 Oberfläche der Erde weiter entferne, und er bleibt nicht über demselben Punkte der      
  28 Oberfläche, sondern entfernt sich von demselben von Westen nach Osten, so werde      
  29 ich auf eben dieselbe vorhergenannte Achsendrehung der Erde schließen, und beiderlei      
  30 Wahrnehmungen werden zum Beweise der Wirklichkeit dieser Bewegung hinreichend      
  31 sein, wozu die Veränderung des Verhältnisses zum äußeren Raume (dem      
  32 bestirnten Himmel) nicht hinreicht, weil sie bloße Erscheinung ist, die von zwei in      
  33 der That entgegengesetzten Gründen herrühren kann und nicht ein aus dem Erklärungsgrunde      
  34 aller Erscheinungen dieser Veränderung abgeleitetes Erkenntniß, d. i.      
  35 Erfahrung, ist. Daß aber diese Bewegung, ob sie gleich keine Veränderung des      
  36 Verhältnisses zum empirischen Raume ist, dennoch keine absolute Bewegung, sondern      
  37 continuirliche Veränderung der Relationen der Materien zu einander, obzwar      
  38 im absoluten Raume vorgestellt, mithin wirklich nur relative und sogar darum      
  39 allein wahre Bewegung sei, das beruht auf der Vorstellung der wechselseitigen continuirlichen      
  40 Entfernung eines jeden Theils der Erde (außerhalb der Achse) von      
           
     

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