Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 514 |
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| 01 | Berührung der Räume und der physischen durch zurücktreibende Kräfte | ||||||
| 02 | macht hier den Grund des Mißverstandes aus. Sich unmittelbar außer der Berührung | ||||||
| 03 | anziehen, heißt sich einander nach einem beständigen Gesetze nähern, ohne | ||||||
| 04 | daß eine Kraft der Zurückstoßung dazu die Bedingung enthalte, welches doch eben | ||||||
| 05 | so gut sich muß denken lassen, als einander unmittelbar zurückstoßen, d. i. sich einander | ||||||
| 06 | nach einem beständigen Gesetze fliehen, ohne daß die Anziehungskraft daran | ||||||
| 07 | irgend einigen Antheil habe. Denn beide bewegende Kräfte sind von ganz verschiedener | ||||||
| 08 | Art, und es ist nicht der mindeste Grund dazu, eine von der anderen | ||||||
| 09 | abhängig zu machen und ihr ohne Vermittelung der andern die Möglichkeit abzustreiten. | ||||||
| 11 | Anmerkung 2. |
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| 12 | Aus der Anziehung in der Berührung kann gar keine Bewegung entspringen; | ||||||
| 13 | denn die Berührung ist Wechselwirkung der Undurchdringlichkeit, welche also alle | ||||||
| 14 | Bewegung abhält. Also muß doch irgend eine unmittelbare Anziehung außer der | ||||||
| 15 | Berührung und mithin in der Entfernung angetroffen werden; denn sonst könnten | ||||||
| 16 | selbst die drückenden und stoßenden Kräfte, welche die Bestrebung zur Annäherung | ||||||
| 17 | hervorbringen sollen, da sie in entgegengesetzter Richtung mit der repulsiven Kraft | ||||||
| 18 | der Materie wirken, keine wenigstens nicht in der Natur der Materie ursprünglich | ||||||
| 19 | liegende Ursache haben. Man kann diejenige Anziehung, die ohne Vermittelung | ||||||
| 20 | der repulsiven Kräfte geschieht, die wahre Anziehung, diejenige, welche blos auf | ||||||
| 21 | jene Art vor sich geht, die scheinbare nennen; denn eigentlich übt der Körper, | ||||||
| 22 | dem ein anderer sich blos darum zu nähern bestrebt ist, weil dieser anderweitig | ||||||
| 23 | durch Stoß zu ihm getrieben worden, gar keine Anziehungskraft auf diesen aus. | ||||||
| 24 | Aber selbst diese scheinbare Anziehungen müssen doch zuletzt eine wahre zum Grunde | ||||||
| 25 | haben, weil Materie, deren Druck oder Stoß statt Anziehung dienen soll, ohne | ||||||
| 26 | anziehende Kräfte nicht einmal Materie sein würde (Lehrsatz 5) und folglich die | ||||||
| 27 | Erklärungsart aller Phänomenen der Annäherung durch blos scheinbare Anziehung | ||||||
| 28 | sich im Cirkel herumdreht. Man hält gemeiniglich dafür, Newton habe | ||||||
| 29 | zu seinem System gar nicht nöthig gefunden, eine unmittelbare Attraction der Materien | ||||||
| 30 | anzunehmen, sondern mit der strengsten Enthaltsamkeit der reinen Mathematik | ||||||
| 31 | hierin den Physikern volle Freiheit gelassen, die Möglichkeit derselben zu | ||||||
| 32 | erklären, wie sie es gut finden möchten, ohne seine Sätze mit ihrem Hypothesenspiel | ||||||
| 33 | zu bemengen. Allein wie konnte er den Satz gründen, daß die allgemeine Anziehung | ||||||
| 34 | der Körper, die sie in gleichen Entfernungen um sich ausüben, der Quantität | ||||||
| 35 | ihrer Materie proportionirt sei, wenn er nicht annahm, daß alle Materie, mithin | ||||||
| 36 | blos als Materie und durch ihre wesentliche Eigenschaft diese Bewegungskraft ausübe? | ||||||
| 37 | Denn obgleich freilich zwischen zwei Körpern, sie mögen der Materie nach | ||||||
| 38 | gleichartig sein, oder nicht, wenn der eine den anderen zieht, die wechselseitige Annäherung | ||||||
| 39 | (nach dem Gesetze der Gleichheit der Wechselwirkung) immer in umgekehrtem | ||||||
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