Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 471 |
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| 01 | kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Theile angeben läßt, | ||||||
| 02 | nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u. d. g. ihre Bewegungen | ||||||
| 03 | sammt ihren Folgen sich im Raume a priori anschaulich machen | ||||||
| 04 | und darstellen lassen (eine Forderung, die schwerlich jemals erfüllt werden | ||||||
| 05 | wird), so kann Chemie nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, | ||||||
| 06 | niemals aber eigentliche Wissenschaft werden, weil die Principien | ||||||
| 07 | derselben blos empirisch sind und keine Darstellung a priori in der | ||||||
| 08 | Anschauung erlauben, folglich die Grundsätze chemischer Erscheinungen | ||||||
| 09 | ihrer Möglichkeit nach nicht im mindesten begreiflich machen, weil sie der | ||||||
| 10 | Anwendung der Mathematik unfähig sind. | ||||||
| 11 | Noch weiter aber, als selbst Chemie muß empirische Seelenlehre jederzeit | ||||||
| 12 | von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft | ||||||
| 13 | entfernt bleiben, erstlich weil Mathematik auf die Phänomene des inneren | ||||||
| 14 | Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist, man müßte denn allein das | ||||||
| 15 | Gesetz der Stetigkeit in dem Abflusse der inneren Veränderungen desselben | ||||||
| 16 | in Anschlag bringen wollen, welches aber eine Erweiterung der Erkenntniß | ||||||
| 17 | sein würde, die sich zu der, welche die Mathematik der Körperlehre | ||||||
| 18 | verschafft, ungefähr so verhalten würde, wie die Lehre von den Eigenschaften | ||||||
| 19 | der geraden Linie zur ganzen Geometrie. Denn die reine innere | ||||||
| 20 | Anschauung, in welcher die Seelen=Erscheinungen construirt werden sollen, | ||||||
| 21 | ist die Zeit, die nur eine Dimension hat. Aber auch nicht einmal als | ||||||
| 22 | systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre kann sie der | ||||||
| 23 | Chemie jemals nahe kommen, weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren | ||||||
| 24 | Beobachtung nur durch bloße Gedankentheilung von einander absondern, | ||||||
| 25 | nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen, | ||||||
| 26 | noch weniger aber ein anderes denkendes Subject sich unseren Versuchen | ||||||
| 27 | der Absicht angemessen von uns unterwerfen läßt, und selbst die | ||||||
| 28 | Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes | ||||||
| 29 | alterirt und verstellt. Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische | ||||||
| 30 | und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren | ||||||
| 31 | Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, | ||||||
| 32 | ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden; welches | ||||||
| 33 | denn auch die Ursache ist, weswegen wir uns zum Titel dieses Werks, welches | ||||||
| 34 | eigentlich die Grundsätze der Körperlehre enthält, dem gewöhnlichen | ||||||
| 35 | Gebrauche gemäß des allgemeinen Namens der Naturwissenschaft bedient | ||||||
| 36 | haben, weil ihr diese Benennung im eigentlichen Sinne allein zukommt | ||||||
| 37 | und also hiedurch keine Zweideutigkeit veranlaßt wird. | ||||||
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