Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 368

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 fragen: hat dieser Autor wohl die Metaphysik um einen Schritt      
  02 weiter gebracht? Ich bitte die gelehrte Männer um Vergebung, deren      
  03 Schriften mir in anderer Absicht genutzt und immer zur Cultur der Gemüthskräfte      
  04 beigetragen haben, weil ich gestehe, daß ich weder in ihren      
  05 noch in meinen geringeren Versuchen (denen doch Eigenliebe zum Vortheil      
  06 spricht) habe finden können, daß dadurch die Wissenschaft im mindesten      
  07 weiter gebracht worden, und dieses zwar aus dem ganz natürlichen Grunde,      
  08 weil die Wissenschaft noch nicht existirte und auch nicht stückweise zusammengebracht      
  09 werden kann, sondern ihr Keim in der Kritik vorher völlig      
  10 präformirt sein muß. Man muß aber, um alle Mißdeutung zu Verhüten,      
  11 sich aus dem vorigen wohl erinnern, daß durch analytische Behandlung      
  12 unserer Begriffe zwar dem Verstande allerdings Recht viel genutzt, die      
  13 Wissenschaft (der Metaphysik) aber dadurch nicht im mindesten weiter gebracht      
  14 werde: weil jene Zergliederungen der Begriffe nur Materialien      
  15 sind, daraus allererst Wissenschaft gezimmert werden soll. So mag man      
  16 den Begriff von Substanz und Accidens noch so schön zergliedern und bestimmen;      
  17 das ist recht gut als Vorbereitung zu irgend einem künftigen      
  18 Gebrauche. Kann ich aber gar nicht beweisen, daß in allem, was da ist,      
  19 die Substanz beharre, und nur die Accidenzen wechseln, so war durch alle      
  20 jene Zergliederung die Wissenschaft nicht im mindesten weiter gebracht.      
  21 Nun hat Metaphysik weder diesen Satz, noch den Satz des zureichenden      
  22 Grundes, viel weniger irgend einen zusammengesetztern, als z. B. einen      
  23 zur Seelenlehre oder Kosmologie gehörigen, und überall gar keinen synthetischen      
  24 Satz bisher a priori gültig beweisen können: also ist durch alle      
  25 jene Analysis nichts ausgerichtet, nichts geschafft und gefördert worden,      
  26 und die Wissenschaft ist nach so viel Gewühl und Geräusch noch immer      
  27 da, wo sie zu Aristoteles' Zeiten war, obzwar die Veranstaltungen dazu,      
  28 wenn man nur erst den Leitfaden zu synthetischen Erkenntnissen gefunden      
  29 hätte, unstreitig viel besser wie sonst getroffen worden.      
           
  30 Glaubt jemand sich hiedurch beleidigt, so kann er diese Beschuldigung      
  31 leicht zu nichte machen, wenn er nur einen einzigen synthetischen, zur      
  32 Metaphysik gehörigen Satz anführen will, den er auf dogmatische Art      
  33 a priori zu beweisen sich erbietet; denn nur dann, wenn er dieses leistet,      
  34 werde ich ihm einräumen, daß er wirklich die Wissenschaft weiter gebracht      
  35 habe: sollte dieser Satz auch sonst durch die gemeine Erfahrung genug      
  36 bestätigt sein. Keine Forderung kann gemäßigter und billiger sein      
  37 und im (unausbleiblich gewissen) Fall der Nichtleistung kein Ausspruch      
           
     

[ Seite 367 ] [ Seite 369 ] [ Inhaltsverzeichnis ]